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Auf zwei Minuten

Sich vom Geist Gottes leiten lassen

Ein Beitrag von Pater Damian Meyer

Pater Damian

Wer das Wort "Vision" verengt als Trugbild oder optische Halluzination versteht, wird Menschen mit "Visionen" als wirklichkeitsfremde Spinner ansehen oder ihnen sogar eine Therapie nahe legen. Visionen, die wir brauchen, sind aber keine Trugbilder, sondern Perspektiven und Zielvorstellungen, die uns erst den Alltag mit all seinen Problemen ertragen lassen und uns über ihn hinaustragen. Hermann Josef Coenen (gest. 1999) hat das treffend in einem Gedicht gesagt: "Kein Mensch kann leben, leben auf Dauer / ohne Perspektive, ohne Hoffnung, / ohne Träume, ohne Visionen. / Kein Lehrer, kein Musiker, keine Mutter, kein Seelsorger. / Sie alle träumen davon, dass die Wirklichkeit / anders sein könnte, als sie jetzt ist. / Vielleicht nicht gerade gerecht. / Aber doch etwas weniger ungerecht. / Vielleicht nicht völlig human. Aber doch etwas humaner."

"Die Hoffnung stirbt zuletzt." Dieses Wort wird immer wieder zitiert nach großen Katastrophen, wenn Menschen sich dennoch aufraffen, alles wieder aufzubauen und neu anzufangen. Im Menschen scheint eine natürliche Kraft der Hoffnung zu liegen, die nicht so schnell aufgibt. Als Christen fragen wir: Haben wir darüber hinaus nicht noch eine viel stärkere Hoffnung, weil wir den Geist Gottes empfangen haben? Der alttestamentliche Prophet Joel (um 400 v. Chr.) zeigt den Menschen seiner Zeit neue Perspektiven auf: "Danach aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen" (3,1). Im Pfingstereignis in Jerusalem sieht Petrus diese Prophezeiung erfüllt: "Jetzt geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist" (Apg 2,16) Als Volk Gottes auf dem Weg lässt sich die Kirche vom Geist Gottes leiten und kann so nicht ohne Visionen leben. Hermann Josef Coenen: "Eine Kirche ohne Visionen / ist wie ein Krebskranker ohne Aussicht auf Therapie ... / Keine Kirche kann leben, überleben auf Dauer / ohne Erneuerung, ohne Reform, / ohne Propheten, ohne Träumer und Visionäre. / Vielleicht schafft sie es nie, / wirklich, Kontrast-Gesellschaft‘ zu werden, / anders als die Ellbogen-Haltung der freien Marktwirtschaft. / Vielleicht schafft sie es nie, wirklich christlich‘ zu werden. / Aber doch weniger un-christlich. / Die ganz groben Widersprüche zum Evangelium / wenigstens in ihren eigenen Reihen zu überwinden. / Eine Kirche ohne Visionen / kann höchstens den Notstand verwalten. / Sie dient zu nichts mehr."

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 45 des 55. Jahrgangs (im Jahr 2005).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Montag, 14.11.2005

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