Es kann überall passieren
Der Dokumentarfilm "Die Kinder sind tot"
Magdeburg - Entsetzt schaute 1999 die Medienöffentlichkeit auf eine Plattenbausiedlung in Frankfurt (Oder). Die damals 23-jährige Daniela Jesse hatte dort ihre beiden kleinen Kinder zwei Wochen lang allein in ihrer Wohnung gelassen. Die Jungen verdursteten qualvoll – unbemerkt.
Daniela Jesse wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, die Medien und damit auch die Öffentlichkeit, die sich auf sie gestürzt hatten, wandten sich ab. Doch trotz geschlossener Akten blieb offen, wie so etwas überhaupt passieren konnte. Genau dieser Frage stellte sich die Autorin Aelrun Goette. Sie sprach mit Danielas Mutter, Freunden, Nachbarn und anderen Beteiligten und besuchte Daniela Jesse im Gefängnis. Es entstand der erschreckende Dokumentarfilm "Die Kinder sind tot", der deutlich macht, wie nicht nur Daniela Jesse, sondern auch das gesamte soziale Umfeld versagt haben. Die Kategorien "Täter" und "Opfer" werden infrage gestellt.
Jetzt zeigte die Stiftung Netzwerk Leben den Film, der 2004 als bester Dokumentarfilm mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde, im Studiokino in Magdeburg. "Uns geht es vor allem darum, die Menschen für die Thematik zu sensibilisieren", betont der Netzwerk Leben-Geschäftsführer Reinhard Grütz. Und Mitarbeiterin Claudia Constein fügt hinzu: "Das Alleinsein, wie es der Film zum Ausdruck bringt, muss nicht sein."
Der Anspruch von Daniela Jesse, allein durchs Leben kommen zu müssen, endete in der totalen Überforderung. Und niemand wollte etwas merken. "Ich mach‘ meins und dann ist’s gut", sagt ein Mann aus der Siedlung, mit dem Aelrun Goette über das Geschehene zu sprechen versucht. Und Nachbarn, die die allein gelassenen Kinder schreien hörten, zucken nur mit den Schultern: "Die Kinder haben immer geschrien." Nur wenige gestehen ein, dass sie etwas hätten tun müssen.
Im Anschluss an die Filmvorführung bestand für die rund 50 Besucher dann noch die Gelegenheit, sich an einer Podiumsdiskussion zu beteiligen. Die Psychologin Tina Harzer, der Leiter der psychiatrischen Abteilung der Bosse- Klinik Wittenberg, Nikolaus Särchen, Charlotte Gersbacher vom städtischen Jugendamt und Michael Rafalski, Leiter der Telefonseelsorge in Magdeburg, standen für Fragen zur Verfügung. Dabei kam immer wieder die soziale Verantwortung des Einzelnen zur Sprache. "Die Leute gucken weg", beklagte etwa eine Kino-Besucherin die fehlende Zivilcourage. Und Charlotte Gersbacher verwies auf die vielschichtigen Hilfsmöglichkeiten des Jugendamtes: "Doch wir können nicht alle Familien in der Stadt kennen. Wir sind darauf angewiesen, dass jemand anruft." Nikolaus Särchen betonte, wie wichtig eine Mentalität sei, die es als sinnvoll ansehe, Hilfe anzunehmen, ganz ohne Hemmungen. Vor allem zeigte die Diskussion noch einmal, dass der Fall der Daniela Jesse eine größere Dimension birgt, als die Verurteilung einer Einzeltäterin nahe legt. So bemerkte etwa ein Kino-Besucher betroffen: "Es kann morgen das Gleiche in meiner Nachbarschaft geschehen."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 24.11.2005