Stille Flucht aus der Kirche?
Umfrage unter jungen Eichsfeldern
"Lasst uns weg gehen vom ständigen schweißtreibenden Leistungschristentum!" Professor Eberhard Tiefensee, Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, erhielt viel Zustimmung für seinen Beitrag beim ersten Eichsfeldforum 2006. Eine seiner Forderungen darin hieß: Christen sollten sich nicht gegenseitig Idealvorstellungen "um die Ohren zu schlagen". Heute sei die Kirche oft intern mit Dingen beschäftigt, die vor allem die Jugend nicht interessierten. Ja, er wolle provozieren, gab er zu – unter anderem mit der nicht zu leugnenden Tatsache, ein großer Teil der Eichsfeld-Jugend ginge in der Diaspora unter.
Ebenso wie Salesianerpater Franz-Ullrich Otto aus München, der bis August 2005 in der Heiligenstädter Villa Lampe tätig war, war er der Einladung zu einer Podiumsdiskussion gefolgt, in deren Mittelpunkt die wissenschaftliche Arbeit einer jungen Heiligenstädter Katholikin stand. Judith Beck, 28 Jahre alt, besuchte das St.-Elisabeth- Gymnasium ihrer Heimatstadt und studierte in Göttingen Politikwissenschaften. Die Referendarin am Gymnasium Eschwege hatte für ihr erstes Staatsexamen das Thema gewählt: "Die katholischen Jugendlichen im Eichsfeld und ihr Verhältnis zur Kirche und dem religiösen Brauchtum". Ihre Präsentation trug den Titel: "Die stille Flucht – Wandert die Eichsfelder Jugend unbemerkt aus der Kirche aus?"
1000 katholische Jugendliche, die eines der Gymnasien des Landkreises Eichsfeld oder eine Regelschulen besuchen, die in die Villa Lampe oder ins Marcel-Callo- Haus kommen oder die zu ihrem Freundeskreis gehören, hatte Judith Beck Ende des Jahres 2002 schriftlich befragt. Einen Fragebogen erhielten auch alle 66 Gemeindepfarrer im Eichsfeld, von denen 49 geantwortet haben.
Nur zehn Prozent fest mit der Kirche verbunden
Die Ergebnisse sind beunruhigend: Galt das Eichsfeld über Jahrhunderte als religiös geprägtes Sondergebiet, fühlen sich heute gerade mal zehn Prozent der Befragten fest mit der Kirche verbunden. Für 51 Prozent gilt sie als moralische Instanz und Wertevermittlerin. 41 Prozent wollen später ihre Kinder taufen lassen, aber nur elf Prozent sind Wallfahrten und Prozessionen wichtig. Für 63 Prozent ist Kirche uninteressant und nicht zeitgemäß. Die Ortspfarrer nannten meist noch alarmierendere Zahlen. "Wenn wir ehrlich sind, uns die Liturgie anschauen und das Messbuch aufschlagen, brauchen wir nicht zu meinen, dass junge Leute das verstehen", machte sich Pater Otto zum Anwalt der Jugendlichen. Die Erwachsenen forderte er auf, nicht mit dem Zeigefinger auf die Jugend zu zeigen, denn: "Junge Menschen schauen stark darauf, wie andere mit ihrem Glauben umgehen."
Vorschläge in der Diskussion
Ehrlich ging es in der Diskussion mit Jugendlichen, jungen Priestern und "gestandenen" Christen zu. Eine "erfahrene" Christin gab zu, ihr festes Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinde sei erst mit den Jahren gewachsen. Weitere Diskussionspunkte: Schon lange sei die Kirche nicht mehr der alleinige Raum, wo die Gläubigen – wie vor der Wende – ein Stück Freiheit erleben; diese ist inzwischen allgegenwärtig. Die Begeisterung des Weltjugendtages müsse weiter erhalten werden; Jugendliche gehörten in die Pfarrgemeinderäte. Und: Jugendarbeit in der Kirche heiße nicht, Veranstaltungen mit 100-prozentiger Teilnahme.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 16.02.2006