Begegnungen in Sibirien
Erfurter Caritasvertreterbesuchen Omsk und Nowosibirsk
Sie heißen Dima, Larissa oder Viktor und sie alle haben etwas gemeinsam: Ihre Gesichter sind bleich, ihr Ausdruck wirkt fahl und hoffnungslos. Das Leben hat sie gezeichnet. Ob klein oder groß – sie standen noch nie auf der Sonnenseite des Lebens und haben schon in jungen Jahren herbe Erfahrungen machen müssen: Alkohol, Gewalt, Prostitution und bittere Armut. Aber wenn sie zu Wort kommen, dann sprechen sie mit Gesten großer Dankbarkeit von Güte, Zuwendung und Annahme – von Caritas. Ihr Dank richtet sich an Menschen, die vor Ort helfen, wie die Franziskanerin, Schwester Elisabeth Jakubowitz und ihre Mitschwestern: eine weitere Franziskanerin und drei Missionarinnen Christi.
Auf Einladung der westsibirischen Caritas – sie feierte das zehnjähriges Bestehen der Caritas in Omsk – machten sich Caritasdirektor Bruno Heller und Referent Thomas Müller auf den Weg in das 6000 Kilometer entfernte sibirische Omsk. Bei der Ankunft herrschten minus 40 Grad Celsius. "Bis 30 Grad springt er noch an. Aber bei 40 geht fast nichts mehr", sagt Fjodor, der Fahrer hoffnungslos. Dann schließt er einen Heizlüfter an, wechselt erneut die Batterien, schickt ein Stoßgebet zum Himmel – und siehe da, der zehn Jahre alte ehemalige Postbus beginnt zu rattern.
"Nachts sind wir im Heizungsschacht"
Die Fahrt geht zum Sammelpunkt für Obdachlose in der Nähe des Bahnhofs. 40 Obdachlose warten bereits in der Kälte. Schnell wird der Topf aufgestellt und die Reissuppe verteilt. Ein Obdachloser richtete seinen Blick auf die Besucher: "Spasibo – Danke". Andere sitzen auf den freigelegten Heizungsrohren der Fernheizung, löffeln ihre Suppe und zitterten vor Kälte. Larissa ist eine von ihnen. Sie zeigt den Besuchern in der Nähe einen Erdeinstieg in einen Heizungsschacht. "Dort sind wir nachts. Aber das ist gefährlich, denn man kann sich dort verbrennen. Oder Jugendbanden spüren uns auf und gießen Benzin in die Schächte. Wir sind allen nur Ballast. Uns braucht doch niemand."
"Auf der Straße ist es besser als die Hölle zu Hause"
Fast unerträglich sind die Schicksale der Kinder. Dima ist 13 und von zu Hause weggelaufen. Er geht nicht mehr zur Schule, stiehlt und ist obdachlos. Sein Leben ging in die Brüche, als sich seine Eltern scheiden ließen. Dima blieb bei der Mutter, die anfing zu trinken. Im Rausch verprügelte sie ihn erbarmungslos. Irgendwann hatte er genug. Das Leben auf der Straße ist immer noch besser als die Hölle zu Hause, erzählte er.
Inzwischen stehen die Obdachlosen vor der Tür des alten Busses und warten auf die medizinischen Behandlungen. Eine Schwester versorgt die Wunden: Verbrennungen, Erfrierungen, offene Wunden. Ein Patient spürt sein rechtes Bein nicht mehr und hat nur noch ein Körpertemperatur von 34 Grad. Er muss ins Krankenhaus. Es ist ernst. Auf der Rückfahrt sprechen die Besucher aus Deutschland im Bus kaum ein Wort. Eine Frage beschäftigt sie: Wie viel kann ein Mensch tragen? Ertragen?
Die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten 15 Jahre haben in Russland tief greifende Veränderungen in allen Lebensbereichen zur Folge, berichtet Schwester Elisabeth. Für einen Teil der Bevölkerung bedeutet das neue Gesellschaftssystem die Chance zur Entfaltung der eigenen Fähigkeiten, zu beruflicher und wirtschaftlicher Karriere. Für andere ist die unerwartete Freiheit verbunden mit dem Wegfall der totalen staatlichen Versorgung und Reglementierung eine Überforderung. Orientierungs- und Haltlosigkeit sind die Folge. Am härtesten betroffen sind Kinder und Jugendliche.
Nach aktuellen statistischen Angaben sind etwa zehn Prozent der Bevölkerung in den Städten Straßenkinder, Obdachlose, Prostituierte. Das sind rund zehn Millionen Menschen, davon sind 2,5 Millionen Kinder. Über die Hälfte der Bevölkerung führt täglich einen Überlebenskampf. Die Kindersterblichkeit in Russland ist dreimal höher als in anderen hoch entwickelten Ländern. "Viele Kinder haben kein eigenes Bett, keine Spielsachen, keine Schulbücher. Ihre Ernährung ist mangelhaft. Oft haben Kinder wegen saufender und randalierender Erwachsener keinen ausreichenden Schlaf. Fehlende elterliche Fürsorge, physische und psychische Misshandlungen hinterlassen bei ihnen tiefe Spuren", erzählt Schwester Elisabeth. Die Caritas hat deshalb Kinderclubs eingerichtet. Derzeit gibt es 17. Die Kinder – alle dürfen kommen – erhalten hier eine warme Mahlzeit, sind in einer beheizten Umgebung, können unter Anleitung Hausaufgaben machen, basteln oder singen.
Mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren die deutschen Besucher die 900 Kilometer nach Nowosibirsk. Dort ist der Sitz der Diözsesancaritas. Das Bistum ist 600 mal so groß wie Thüringen. Seit 2004 ist Schwester Elisabeth Caritasdirektorin in Westsibirien. Hinter ihrem Schreibtisch steht eine Luftmatratze. "Drei Stunden Ruhe in der Nacht müssen reichen", sagt sie lächelnd. Ein riesiges Aufbauwerk in Zeiten der russischen Staatskrise haben die Schwestern seit 1995 in Omsk bewältigt. Dort hat die Caritas heute 50 Mitarbeiter, mannigfaltige Projekte vom Optiker bis zur Nähstube, Sozialberatung, Kinderclub, Suppenküche, Kleiderkammer und Lebensmittelausgabe. Nun baut Schwester Elisabeth die Caritas in Nowosibirsk mit auf.
Beim Eintritt in die Suppenküche der Stadt das gewohnte Bild: Viele Menschen, Essenausgabe, Holztische und Stühle – einfach, aber sauber. Doch auf der anderen Seite der Essenausgabe hinter einer Glasscheibe stehen Schwestern mit Mundschutz. Schwester Elisabeth blickt in fragende Gesichter und erklärt: "Wir haben gerade bei den Obdachlosen ein Riesenproblem: Tuberkulose. Der Mundschutz dient dem Schutz unserer Mitarbeiter."
Nächste Station des Besuches ist das psychiatrische Krankenhaus: Auf der Frauenstation sitzen oder stehen 20 bis 30 Frauen. Essen, schlafen, stehen, sitzen – der Tag, die Nacht – das ist hier der Ablauf. Die Besucher aus Erfurt müssen an das alte katholische Krankenhaus in ihrer Stadt denken, an dessen Stelle vor einiger Zeit ein Neubau getreten ist. Wenn man das alte Krankenhaus doch einfach hier hinstellen könnte. Was wäre das für ein Luxus!
"Am Morgen spürte ich meine Beine nicht mehr"
An ihrem letzten Abend in Sibirien besuchen die deutschen Gäste den Gottesdienst in der Franziskanerpfarrei. Hinter sich entdecken sie sieben Missionarinnen der Nächstenliebe, besser bekannt als Mutter-Teresa-Schwestern. Ganz in der Nähe wirken sie in einer Obdachlosenunterkunft. Es kommt zu einem spontanen Besuch. 50 Plätze hat die Unterkunft. Die Männer und Frauen leben dort in einfachster Umgebung, aber alles ist warm und sauber. Sie liegen und sitzen auf ihren Betten: Frauen, die auf einen Platz im Pflegeheim warten, und Männer ohne Beine – abgefroren. Viktor erzählte: "Es reichte eine Nacht, sie war frostig kalt, ich war betrunken, irgendwo blieb ich liegen, am nächsten Morgen spürte ich meine Beine nicht mehr. Jetzt hoffe ich auf eine Prothese", sagt er und setzt hinzu: "Wenn man doch manches ungeschehen machen könnte."
Zurück in Deutschland fragen sich die Besucher nach einem Fazit. Was bleibt neben aller Betroffenheit? Die Hochachtung für Schwester Elisabeth, die anderen Schwestern und alle, die in Omsk und Nowosibirsk unter schwierigsten Bedingungen für die Ärmsten der Armen da sind. Die Hoffnung, dass sich vor Ort immer wieder viele helfende Händen finden, die von spendenden Händen unterstützt werden. Und ganz besonders das Vertrauen auf Gottes Segen, der bis heute auf dem Werk der Caritas in Sibirien liegt.
Hinweise
Spenden: Wer die Arbeit der Caritas in Sibirien für Dima, Larissa, Viktor und all die anderen Notleidenden mit einer Spende unterstützen will, kann diese auf das Konto des Caritasverbandes für das Bistum Erfurt überweisen:
KTO: 5000 123 031
BLZ: 370 601 93
Pax Bank
Stichwort: Omsk
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 09.03.2006