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Auf zwei Minuten

Der Faden nach oben

von Pater Damian

Pater Damian Meyer "An einem sonnigen Herbsttag segelte eine gut genährte Spinne durch die milde Luft und landete schließlich in einer Hecke. Sie ließ sich zappelnd und tastend weit hinab und baute sich ein wundervolles Nest, in das sie sich behaglich setzte. Die Zeiten waren gut, und es flog ihr vieles kleine Getier in die feinen Maschen. Eines Morgens - der Tau glänzte wie Perlen im Netz - wollte die Spinne ihre Wohnung inspizieren. Sie lief auf den engen Straßen ihrer Netzfäden herum wie eine Seiltänzerin und guckte überall hin um festzustellen, ob alles in Ordnung sei. Da kam sie an einen Faden, der gerade in die Höhe lief und bei dem sie nicht erkennen konnte, wo er eigentlich endete. Sie starrte in die Höhe mit all ihren vielen Augen; aber sie entdeckte kein Ende. Sie schüttelte den Kopf und fand diesen Faden einfach sinnlos. Verärgert biss sie ihn durch, - und dann lag sie im Staub, eine Gefangene im eigenen Netz." In dieser bilderreichen Parabel hat der dänische Schriftsteller Johannes Jörgensen (1866 bis 1956) dargestellt, was Glaube bedeutet.
Viele Menschen, die diese Geschichte hören, werden wohl von sich sagen: "Ich lebe ohne diesen Faden nach oben ganz gut und liege keineswegs im Staub!" Sie gehören zu der großen Zahl von Zeitgenossen, die meinen: "Zu den Realitäten des Lebens zählt nur das, was man sehen, greifen, begreifen und machen kann. Alles, was ich nicht sehen und hören und greifen kann, ist unwirklich und deshalb ohne Bedeutung." Sind wir nicht alle versucht, so zu denken? Achten wir nur einmal darauf, was uns umtreibt, was uns in Beschlag nimmt, worüber wir die meiste Zeit reden: Arbeit und Beruf, Geldverdienen, Angebot und Nachfrage, Gesundheit und Krankheit, Urlaub ... Diese Welt mit ihrem Vorhandenen, Greifbaren, Zählbaren, Nachweisbaren und Machbaren hat uns einfach im Griff.
Wenn wir dagegen "ich glaube an Gott" sagen und uns ihm anvertrauen, dann bekennen wir das Gegenteil: Sehen und Hören und Greifen und Machen ist nicht das eigentlich Tragende meines Lebens, sondern das nicht zu Sehende und nicht Machbare ermöglicht mein Leben. Das ist der "Faden nach oben", dessen Ende nicht abzusehen und zu kontrollieren ist. Wenn ich nur dem traue, was ich selbst beherrsche, was ich absehen und messen kann, dann bin ich wie die Spinne im eigenen Netz gefangen, weil ich den "Faden nach oben" zerrissen habe.
"Glaube aber ist: Fest stehen in dem, was man erhofft, überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht" (Hebr 11,1).

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 31 des 51. Jahrgangs (im Jahr 2001).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 02.08.2001

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