Schule braucht innere Reformen
Kongreß vom Bund Neudeutschland in Halle
Es hatte Symbolkraft. Ein zufriedener Einjähriger krabbelte während der Podiumsdiskussion über "Bildung als gesellschaftliche Herausforderung" aus dem großen Zuhörerblock von vielleicht 600 Teilnehmern geradewegs hinauf Richtung Podium – als ob er tief in sich ahnte, dass hier seine Sache verhandelt wird. Und die wurde in Halle beim Bundeskongress des Bundes Neudeutschland von denangereisten rund 800 Mitgliedern der Gemeinschaft katholischer Männer und Frauen (KMF) und der Katholischen Studierenden Jugend (KSJ) mit Leidenschaft diskutiert.
Entscheidende Grundkonstante jeder Schule muss sein, "den jungen Menschen das Gefühl zu geben: Es ist gut, dass du da bist, so wie du bist. Wir wollen dir helfen, das zu entwickeln, was in dir steckt." So formulierte es der Bildungsexperte und emeritierte langjährige Rektor der Bodenseeschule St. Martin in Friedrichshafen, Alfred Hinz. Hinz gehört zu den Pädgogen und Eltern, die vor gut 30 Jahren auf dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes das Bildungskonzept Marchtaler Plan ins Leben riefen, das heute an vielen konfessionellen Schulen umfassend oder in Teilen realisiert wird.
Kindern helfen, die eigenen Fähigkeiten zu entfalten
Es gelte, dem Kind als Ebenbild Gottes zu helfen, Vertrauen in sich selbst zu entwickeln, so Hinz. "Ein Kind weiß selbst genau, wo es schwach ist. Wir dürfen es nicht schon in der Grundschule zum Krüppel machen." Kerngeschäft der Schule müsse sein, mit den Kindern zu arbeiten, sie zur Leistung zu befähigen. Wenn dies für das einzelne Kind individualisiert geschieht, könne jedes Kind mehr leisten als wenn allen die gleichen Anforderungen auferlegt werden. "Wir lassen deshalb die Kinder in Begleitung der Lehrer weitgehend frei arbeiten. Und auch die schwachen Schüler schaffen am Ende die vom Land (Baden-Württemberg) vorgegebenen Prüfungen", sagte Hinz. "Nur aus pädagogischen Gründen sind wir für die Ganztagschule, um mit den Kindern und für sie Zeit zu haben", so Hinz. So sei Bildung mit "Kopf, Herz, Hand und Fuß" möglich.
Wie wichtig die Zuwendung von Eltern und Pädagogen zum Kind ist, war zwei Tage zuvor bei einem Dialog der Disziplinen erneut deutlich geworden. Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther räumte im Gespräch mit dem Berliner Erziehungswissenschaftler Rainer Winkel ein, die Neurobiologie sei im Blick auf Fragen der Hirnentwicklung lange Zeit auf einem falschen Weg gewesen. Seit etwa zehn Jahren sei nachgewiesen, dass die Entfaltung des Gehirns nicht genetisch gesteuert ist, sondern sehr stark von den Erfahrungen abhängt, die Kinder in ihren frühen Jahren machen. Je mehr ein Kind Ansprache, Akzeptanz und Geborgenheit erfährt, um so umfassender seien die für die Entwicklung kompetenten Menschseins wichtigen Synapsen in der Lage, sich perfekt zu verschalten.
Bestätigung aus der Neurobiologie
In die gleiche Richtung wie Alfred Hinz argumentierte auch der Publizist des Buches "Treibhäuser der Zukunft" und Filmautor Reinhard Kahl. Es müsse darum gehen, "eine Atmosphäre der Anerkennung in den Schulen" zu schaffen, bei der "das Vertrauen höher steht als das Misstrauen". Stattdessen gebe es aus der Vergangenheit mancherorts immer noch "eine Tradition, die Kinder erst einmal klein zu machen". Deshalb sei nicht unwesentlich, wie sich die Erwachsenen selbst im Bildungsprozess verstehen.
Der alte und neue Kultusminister in Sachsen-Anhalt, Jan-Hendrik Olbertz (parteilos) verlangte angesichts der langjährigen Strukturdiskussionen im Schulbereich, sich endlich auf innere Reformen der Schulen zu konzentrieren. Man müsse in Deutschland durchaus von einer "Bildungskrise" reden, sagte Olbertz. Diese hänge stark mit einer Krise bei den Wertorientierungen zusammen. Um so mehr sei es nötig, "die Kinder in die Lage zu versetzen, sich selbst zu bilden". In der Wissensvermittlung gelte es, sich auf Wissenskulturgut zu konzentrieren, weil dies nicht veraltet wie vieles heutiges Wissen, das immer kürzere Halbwertzeiten hat.
Wer Ganztagsschulen fordere, dürfe nur für gute Ganztagsschulen sein, sonst könne die Ganztagsschule einen riesigen Schaden anrichten, meinte Olbertz weiter. Ohne innere Reform sei die beste Sruktur bald wertlos. Der Kultusminister stellte sich auch ein Stück weit vor die Pädagogen: "Schule kann nicht Reparaturwerkstatt für alle möglichen Gebrechen sein". Wer Kinder in die Welt setzt, habe als Eltern die Pflicht, seine Verantworttung wahrzunehmen. Und: "Wir müssen für eine gesellschaftliche Debatte sorgen, die deutlich macht, dass Kinder in ihren Familien in Geborgenheit, Gewissheit und Vertrauen aufwachsen können."
Auch die Eltern in ihrer Situation abholen
Demgegenüber warb der emeritierte Magdeburger Bischof Leo Nowak auch um Verständnis für die Eltern, denen es bei der Erziehung ihrer Kinder an Kompetenz mangelt. Sie seien Kinder ihrer Zeit und nicht wenige stünden in einem Existenzkampf, um das Leben zu sichern, so der Altbischof. Zuvor hatte Nowak deutlich gemacht, dass Elternwille ihn veranlasste, im Bistum Magdeburg vier Grundschulen und drei Gymnasien zu gründen. Mit diesem Angebot stoße die Kirche auch auf eine große Gruppe nicht getaufter Eltern, die der Kirche für ihre Kinder viel Kompetenz in Sachen Schule zutrauen. "Die Eltern haben die Erwartung, dass ihren Kindern in unseren Schulen Antworten auf die Fragen des Lebens angeboten werden: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum bin ich?" so der emeritierte Bischof. Nowak wies auch darauf hin, dass neben den fehlenden Finanzen für Schulen in kirchlicher Trägerschaft ein großes Problem darin besteht, geeignete Schulleiter und Lehrkräfte für die Bildungseinrichtungen zu finden. "Wir könnten durchaus noch mehr Schulen eröffnen", so der Altbischof.
Johannes Böhmer von Telekom- Systems Köln mahnte als Vertreter der Wirtschaft Sozialkompetenz und umfassendere Fähigkeiten der Schulabgänger an, sich relativ schnell neue Erkenntnisse anzueignen. "Die Schule muss den Schülern helfen, soziale Kompetenz, aber auch das Interesse am Lernen zu entwickeln und die Schüler für die Hochschule qualifizieren", so Böhmer. Der Wirtschafts-Vertreter bestätigte eine Anfrage, wonach in Führungspositionen vor allem Absolventen von Schulen in freier Trägerschaft tätig sind. "Wir brauchen leistungsstarke junge Menschen, sonst kommen wir mit der Wirtschaft nicht voran." Auch wenn dies bislang verpönt war, sei die Wirtschaft bereit, dafür Geld zur Verfügung zu stellen.
Hintergrund - Aus dem Bildungskommunique
Am Ende des Kongresses stand ein Bildungkommunique, in dem sich die Teilnehmer dafür einsetzen, in der Vorschul- und Schulbildung von einem Paradigma der Betreuung und Instruktion zu einem der Begleitung und Kommunikation überzugehen. Schülern – gerade auch aus sozial benachteiligten Familien – gelte es, "gleiche Chancen der Teilhabe durch und an Erziehung und Bildung zu geben" sowie gleiche Möglichkeiten, "ihre Potentiale zu entfalten". Die Eltern seien "intensiv und konstitutiv in die Erziehungs- und Bildungsprozesse einzubeziehen und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Eltern sowie Elternbildung zu betreiben".
Für die Vorschulzeit verlangen die Verfasser, "die sensiblen Phasen des Lernens in der Kindheit zu beachten", "auch früh einsetzende Ganztagsangebote vorzusehen und entsprechend auszustatten" und Erzieherinnen besser zu qualifizieren. Für den Bereich der Schule fordern sie zum Beispiel, "das kognitive, praktische und emotionale Lernen, das ästhetische und das soziale, sportliche und gesundheitliche Lernen gleichermaßen zur Geltung kommen zu lassen". Fragen der religiösen Orientierung seien fächerübergreifend einzubeziehen und die Schulen zu "Häusern des Lernens" umzugestalten. Die Bildungsgänge müssten durchlässiger und anschlussfähiger, die Investitionen erhöht werden, verlangten die Kongressteilnehmer. Vorschule und Schule benötigten mehr zivilgesellschaftliches Engagement und Kapital.
Das drei Seiten umfassende Papier will der Bund Neudeutschland noch beraten und im Herbst formell verabschieden.
www.kmf-net.deAufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 27.04.2006