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Anstoß

Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding

Vom (christlichen) Umgang mit der Zeit

Martin Weber

Die Worte der Überschrift zu diesem Artikel, liebe Leserin und lieber Leser, habe ich einer Arie aus dem "Rosenkavalier", einer Oper von Richard Strauss aus dem Jahr 1911, entliehen. Es ist die berühmte Arie der "Marschallin", einer Frau von etwa 40 Jahren, die einen jüngeren Mann liebt, aber erkennen muss, dass ihrer Liebe ein unbesiegbarer Feind erwachsen ist: die Zeit. Die Besorgnis der "Marschallin", ihren Geliebten zu verlieren, vielleicht auch schon die unmittelbar drohende Möglichkeit dieses Verlustes, löst bei der "Marschallin" ein Zeitbewusstsein aus, das ganz auf der im Flug dahinschwindenden Zeit beruht. Sie erkennt, dass ihre Lebenszeit knappe Zeit ist.

In der berühmten Arie geht es letztlich "nur" um den einfachen Gegensatz von Jugend und Alter. Für viele Menschen scheint die Zeit aber überhaupt knapp zu sein. Von einigen unserer Zeitgenossen kann man beinahe täglich den Satz hören, dass sie keine Zeit haben. So sagte mir neulich eine ältere Dame bei einem Geburtstagsbesuch, dass manche Menschen aus ihrem Umfeld einfach keine Zeit für sie fänden, nicht einmal zu einem kurzen Plausch. Aus ihren Worten klang eine Enttäuschung, die ich gut verstehen konnte. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass der berühmt-berüchtigte Satz "Ich habe leider keine Zeit" oft auch gedankenlos dahingesagt wird.

Vielleicht wollen die Menschen, die ihn aussprechen, nicht mit den Problemen anderer Menschen belästigt werden. Aber oft sind diese Probleme so groß nun auch wieder nicht. Viele Menschen, und beileibe nicht nur ältere, suchen einfach nur einen guten Gesprächspartner und Zuhörer. Vielleicht haben wir es sogar verlernt, für eine gewisse Zeit zuhören zu können. Und wenn ich zu Beginn eines Gesprächs demonstrativ sage, dass ich keine Zeit habe, signalisiere ich ja schon, dass ich nicht Zuhören möchte.

Vom christlich-jüdischen Standpunkt aus betrachtet, ist das Zuhören und die damit verbundene Zeit, die ich aufopfere, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Das gebietet schon die Achtung vor dem anderen Menschen. Das Alte Testament weiß sehr wohl, dass die Zeit eine Kostbarkeit ist. Denn das Leben geht rasch vorbei, wir fliegen dahin (vgl. Psalm 90,10). Es ist daher für die Bibel ein Zeichen von Weisheit, mit der Zeit "gut" umzugehen und sie im Leben richtig zu verteilen, denn "für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit", so lesen wir im Buch Kohelet im Alten Testament zu Beginn des dritten Kapitels.

Meine Zeit in meinem Leben gut zu verteilen, kann dann eben auch bedeuten, mir jetzt Zeit für ein Gespräch zu nehmen, und sei es nur für einen kleinen Plausch. Unsere Zeit mag uns dann so manches Mal immer noch wie "ein sonderbar Ding" erscheinen. Aber sie ist dann gelebte und nach christlichem Maßstab auch menschliche Zeit.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 20 des 56. Jahrgangs (im Jahr 2006).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 18.05.2006

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