Warum die Kuh nicht fliegen kann
Gottes Weisheit in der Schöpfung
"Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht. Die Erde ist voll von deinen Geschöpfen" (Ps 104,24). Kann ich diesen alten Psalmvers heute noch überzeugt und ehrlich beten? Im ersten Schöpfungsbericht der Bibel heißt es: "Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut" (Gen 1,31). Ist wirklich alles gut? Auch die furchtbaren Erdbeben und Seebeben, todbringende Überschwemmungen und Dürreperioden? Die Abfolge von Werden und Vergehen, von Fressen und Gefressenwerden, das Aussterben von Arten? Dabei will ich einmal absehen von den von Menschen verursachten Verschlechterungen und Zerstörungen. Können wir als moderne Menschen, die um die Evolution und die ungeheuren Dimensionen des Weltalls wissen, noch an eine feste Ordnung glauben? Ist die Welt verlässlich? Ist sie eine friedliche Heimstatt für Menschen und Tiere? Wenn wir in die Welt blicken, dann tauchen doch Ängste und Sorgen auf.
Wenn Sie den Schöpfungspsalm 104 lesen, stellen Sie fest: Auf den ersten Blick lobt der Psalm Gott in einer überschwänglichen Sprache, die uns fremd ist. Die Vorstellungen von Welt und Weltenstehung des Psalmisten sind nicht die unseren. Doch ein zweiter Blick lässt uns entdecken: Der Psalm redet nicht nur von Harmonie und Ordnung, sondern auch vom Chaos, das die Welt bedroht. Das Wasser, das die Erde als Urflut überspült hat und sie wanken ließ, ist dasselbe Wasser, das aus den Quellen sprudelt und die Lebewesen tränkt. Dieses Wasser umgibt die Erde von unten und oben. Der Psalm weiß also um das Chaos und die Bedrohung der Welt. Er redet von Ordnung und Heimat auf dem Hintergrund dieses Wissens. Der Psalm will uns herausfordern und freisetzen zum Lob Gottes – trotz der spannungsvollen Erfahrung von Chaos und Ordnung.
"Der Psalm lädt mich ein, betend mein Gottesbild und meine Haltung zur Welt zu überprüfen: Kann ich nicht doch, obwohl ich um das Bedrohliche weiß, aus der Hoffnung und Freude am Schöpferwirken Gottes leben?"(Xaver Pfister). Habe ich nicht genug konkrete Kenntnisse und Erfahrungen, die mich das Lob der Weisheit Gottes singen lassen? Dann kann es mir wie dem Juden in dieser rabbinischen Geschichte ergehen: Schamsel wandert durch ein Dorf. Auf der Wiese sieht er eine Kuh. Sie ist an einen Pflock gebunden und müht sich, davon loszukommen. Das interessiert den weichherzigen Philosophen und er fängt an zu klären: "Sie sagen, Gott is weise! Nu, is Gott weise? Wieso is Gott weise?...Is er weise, zu schaffen eine Kuh, was man kann anbinden mit einem Strick? Was hat die Kuh davon? Sie kränkt sich und quält sich. Warum kann eine Kuh nicht fliegen wie der Vogel dort? Möchte ihr nicht sein besser, wenn sie möchte fliegen?" Indem er so klärt und immer tiefer sich einspinnt in sein Denken, fliegt eine Schwalbe über ihn weg, und aus der Luft fällt ein feuchtes Klümpchen dem Schamsel gerade auf die Nase. Da ruft er: "Allmächtiger, sie haben wirklich recht: Du bist weise! Gott behüte, dass eine Kuh sollt können fliegen wie ein Vogel!"
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 08.06.2006