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...bis zur Vollendung

Passionsoratorium von Kurt Grahl

Leipzig - "Das Johannesevangelium erzählt den Weg Jesu auf seine eigene Weise", schreibt der Erfurter Neutestamentler Claus-Peter März in seinem Vorwort des Textheftes. Auf eigene Weise umgesetzt ist die Passionsgeschichte im Passionsoratorium nach Johannes "Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, LIEBTE ER SIE BIS ZUR VOLLENDUNG" von Claus-Peter März (Text) und Kurt Grahl (Musik), das am 24. März in der Leipziger Propsteikirche uraufgeführt wurde.

Was den Besucher erwartet, ist eine völlig ungewohnte Art von Passionsmusik. Keine Rollenverteilung. Auch kein Chor, der das Volk oder andere Menschengruppen darstellt. Stattdessen zwei Evangelisten - Sopran (Kristina Grahl) und Bariton (Andreas Kindschuh). Dem ersten Evangelisten (Bariton) fallen die erzählenden Abschnitte der Passion zu, mit ihm ist der Besucher auf dem Weg Jesu vom Ölberg bis nach Golgatha unterwegs. Mit dem zweiten Evangelisten verweilt der Zuhörer vor Ort - es sind jene Passagen, in denen sich die Passion um das Wort Jesu dreht. In diesen Abschnitten verdeutlicht Kurt Grahl wie sehr Jesu Wort im Mittelpunkt der Johannespassion steht - ein kleiner Chor singt als Untergrund, gewissermaßen als Fundament das zentrale Wort des jeweiligen Abschnitts.

Kurt Grahls Passionsoratorium besteht aus fünf Kantaten, die den fünf Teilen des Johannes-Textes - Gefangen, Verhört, Verurteilt, Gekreuzigt und Begraben entsprechen. Nach der eigentlichen "Handlung" übernimmt am Ende der Kantaten der große Chor die Rolle des "Stellvertreters" der Gemeinde. Ein Choral in Ich-Form nimmt Bezug auf das vorher Gehörte und ein abschließendes Stück verbindet das Wort Jesu (ausgewählte Stellen aus dem Johannesevangelium) mit dem Ich-Bezug aus dem Choral, indem der Kinderchor als Überchor den Choral noch einmal aufgreift.

Zentrum der Passion ist die Kantate "Verurteilt", der Prozess Jesu vor Pilatus. Claus-Peter März: "Johannes zeigt im Prozess die Auseinandersetzung des göttlichen Offenbarers mit einer blinden und in sich selbst verstrickten Welt." Die in diesen zentralen Teil eingebauten zwei Meditationen sind als Akzente besonders hervorgehoben. Die hintergründige Aufforderung "Seht den Menschen" und die Frage "Was ist Wahrheit?" - ein wunderbares Duett der zwei Solisten. Die Suche nach Wahrheit erscheint in der Musik als ein "Zueinanderfließen" und "Auseinanderstreben" der beiden Stimmen.

"Das Johannesevangelium will uns ,Wahrheit' eröffnen", schreibt Claus-Peter März. Der Versuch, "Wahrheit" zu eröffnen, taucht auch in der Musik auf. Dieses Werk trumpft vor allem nicht durch abgehobene Einstimmigkeit und triumphale Melodien auf, sondern bewegt sich so nah an den Gefühlen tiefster Trauer, die der Tod - fernab allen Auferstehungs- und Erlösungsglaubens - in uns auszulösen vermag, wie es bisher vielleicht nur wenige Passionen verstanden haben. Wahrheit also nicht nur in Worten - eine zutiefst menschliche Realität auch in der Musik! Besonders beeindruckend erscheint diese Realität - ausgedrückt durch einen klagenden Sopran - in einer Zwischenmusik nach dem Tod Jesu. Im "Es ist vollbracht" dagegen ist auch musikalisch der Ansatz einer berechtigten Hoffnung auf mehr schon spürbar. Als "Basis" taucht das "Es ist vollbracht"-Motiv aus der Bachschen Johannespassion auf. "Der johanneische Jesus geht nicht ins Dunkel der Gottverlassenheit, sondern kehrt durch den Kreuzestod in die Welt des Vaters zurück", so März.

Die zwei Stunden in der Propstei waren ein großer Musikabend. Einer, der durch die musikalische Nähe an den Gefühlen der Trauer keine Hochstimmung in uns auslöst, wohl aber durch die Deutlichkeit der Worte Jesu - als absoluter Mittelpunkt der Passion hervorgehoben - Anlass zu Hoffen gibt. Und ist damit nicht die wirkliche und ureigene Aufgabe einer Passionsmusik erfüllt?

Philipp Jahn

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 13 des 51. Jahrgangs (im Jahr 2001).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 29.03.2001

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