Niemand geht verloren
Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Zum Abschied flossen Tränen. Seine Frau hatte Angst um ihn, als er sich so ganz allein auf die Reise machte, die keine gewöhnliche war. Thomas Wilke hatte Verständnis dafür, dass sich seine Lieben Sorgen um ihn machten. "Einmal am Tag musste ich mich melden", verrät der 51-jährige Jakobspilger. "Das war die Bedingung".
"Wenn ich es mache, dann richtig"
Wilke hat sich einen Traum erfüllt. "Ich wollte schon immer nach Santiago pilgern. Und ich dachte, wenn ich es mache, dann richtig." Fast zwei Jahre hat er sich darauf vorbereitet: den besten Weg erkundet, Literatur gelesen, Pilgerherbergen gesucht, eine "geistliche Landkarte" erstellt. "Für mich war es vor allem wichtig, einmal alles hinter mir zu lassen. Termine, Zeit- und Leistungsdruck, den Alltag, der alles, besonders das Religiöse, überlagert." Und er ist diesen Weg bewusst allein gegangen. Dennoch, so erzählt er, hat er viele interessante Menschen getroffen, Gespräche geführt, die so wohl nie möglich gewesen wären. "Auf dem Jakobsweg geht niemand verloren."
Erst einmal hat er sich aber verlaufen und seine erste Lektion gelernt: Immer auf die Markierungen achten. Begonnen hat Wilke seinen Pilgerweg am Ostermontag im französischen Moissac – genau 1106 Kilometer sind es von hier bis nach Santiago de Compostela, dem Ziel seiner Reise. "Man muss erst seinen Rhythmus finden. Die ersten 14 Tage bin ich fast allein gelaufen", berichtet Wilke. "Danach hatte ich das Bedürfnis, mal mit jemandem zu sprechen". Auf den Tagesstrecken betet der Pilger den Rosenkranz und beschäftigt sich mit dem Psalm 23: "Der Herr ist mein Hirte ..." Thomas Wilke merkt schon jetzt, dass er nicht mehr derselbe sein wird, wenn er nach Hause zurückkehrt. "Dieser Weg verändert den Menschen, lenkt die Fragen auf das Wesentliche. Ich glaube, ich habe in dieser Zeit ein großes Gottvertrauen gefunden."
In den Pilgerherbergen herrscht ein Kommen und Gehen. Jeder Jakobspilger soll nur eine Nacht an einem Ort bleiben und dann weiterziehen. Wer einen "Stempel" im Pilgerpass hat, kann nicht noch einmal übernachten. Der Andrang in den Herbergen ist groß – gerade in den Sommermonaten sind die Pilger zu Tausenden unterwegs. "Der älteste, den ich getroffen habe, war 79 Jahre alt."
Viele Menschen, die unterwegs sind, gehen bis an die Grenzen – aufzugeben käme einer Niederlage gleich. "Eine Norwegerin, mit der ich ein Stück gelaufen bin, hätte eigentlich nicht mehr weitermachen dürfen", berichtet Wilke. Sie lief praktisch mit offenen Füßen, so groß waren ihre Blasen. Aber im Gespräch mit mir musste sie sich auf die fremde Sprache konzentrieren, sodass sie den Schmerz nicht mehr spürte."
Seinen 51. Geburtstag "feiert" Wilke auf dem Jakobsweg – an diesem Tag läuft er eine vergleichsweise kleine Tour von 28 Kilometern, noch auf französischem Gebiet. "Es war ein Abschnitt, auf dem mir alles wehtat. Ich hatte mit beiden Füßen Probleme. Am Abend nach dem Pilgersegen habe ich dann Geburtstagswünsche per Telefon entgegengenommen."
Ein neuer Blick auf das LebenThomas Wilke ist Menschen begegnet, für die der Jakobsweg auch ein Weg der Versöhnung war: So berichtete ein Holländer von seiner Entlassung kurz vor der Pensionierung: "Darüber war er so sauer, dass er nicht zum Herbstfest seiner Firma gegangen ist." Von den Niederlanden bis nach Santiago ist er 2500 Kilometer gefahren. Diese Fahrt hat ihm klar gemacht, dass er bis zur Rente finanziell abgesichert ist und ihm mit der Entlassung eigentlich nichts Besseres passieren konnte. Jetzt wollte er sich mit einem Geschenk bei seinem Chef dafür bedanken. Wilke: "Die Fahrt nach Santiago hatte ihm einen ganz neuen Blick auf sein Leben gegeben."
Auch Atheisten hat der Pilger aus Guben auf dem Jakobsweg getroffen, Menschen, "die sich nicht an den Gebeten und Pilgersegnungen beteiligten, denen aber die Gemeinschaft und das Ankommen wichtig waren."
Auch Thomas Wilke ist angekommen: am 25. Mai in Santiago de Compostela. "Die Pilgermesse war der krönende Abschluss. Ich hätte noch zwei Tage bleiben können, bin aber sofort zurückgeflogen." Er würde sich wieder auf den Weg nach Santiago machen: "Ich habe unterwegs innere Ruhe und ein unerschütterliches Vertrauen gefunden."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 15.09.2006