Mystik ist praktisches Christsein
Tagung zu den Geistlichen Übungen der heiligen Gertrud von Helfta
Schwester M. Assumpta Schenkl vom Zisterzienserinnen-Kloster Helfta betonte, dass die Menschen sehr überrascht sind, wenn sie erstmals etwas von der tiefen Sehnsucht Gottes hören. Eine Sehnsucht, die dem Menschen gilt, die ihm nachgeht. Gertrud von Helfta, vor 750 Jahren in Thüringen geboren, hatte diese Sehnsucht Gottes im eigenen Leben immer wieder gespürt. Sie wurde zur Grundmelodie ihres geistlichen Lebens.
Und Schwester Johanna Schwalbe von der Benediktinerinnenabtei St. Gertrud in Alexanderdorf bei Berlin machte Mut, sich zusammen mit Gertrud auf den Weg zu machen. Auch wenn sich Vorstellungen, Sprache und Ausdrucksform geändert haben, so ist doch das Ziel, der Weg bis in unsere Tage gleich: Die innere Begegnung mit dem dreifaltigen Gott. Das aus ihm heraus leben und schöpfen können. Gertruds Geistlichen Übungen nannte die Benediktinerin eine Art Regieanweisung für das christliche Leben, die konkrete Hilfen anbietet. So könne beispielsweise der Punkt "leer sein" übersetzt bedeuten: "Setze dir einen Tag fest, an dem du für den Lobpreis Gottes frei sein kannst."
Viele Teilnehmer bedauerten, dass das geistliche Leben heute zu kurz komme, so Irmgard Kreye aus dem Bistum Hildesheim. Sie wünschte sich eine Vertiefung und Verinnerlichung des Glaubens, der jenseits des so genannten Sonntagschristentum Bestand hat. "Es gibt soviel Spiritualität, aber wo wird diese spürbar in der Gemeinde, im Lebensraum der Christen", fragte Irmgard Kreye in die Runde. Schwester Johanna regte als Antwort unter anderem an, sich vor Ort in kleinen Gruppen zu treffen, um zunächst über zwei Frage nachzudenken. Diese lauten: Worüber möchte ich vor Gott Klage führen, und wo sind die Situationen, Umstände und Personen in meinem Leben, für die ich Gott danke. Die damit mögliche Vergewisserung von Klage und Dank, so Schwester Johanna, könne bereits eine tiefe mystische Erfahrung der Gottesnähe für jeden einzelnen Teilnehmer sein.
Thematisiert wurde im Kloster Helfta zudem die Unerlöstheit des modernen Menschen, sein Getriebensein, seine innere Heimatlosigkeit … Auch Gertrud, so Schwester Johanna, habe dieses Gefühl des Unvollendetseins gekannt. Allerdings wäre es falsch anzunehmen, dass sie die Welt nur als einen zutiefst unwohnlichen Ort empfunden habe, betonten Teilnehmer in der Diskussion. Gertrud von Helfta sei vielmehr ein froher Mensch gewesen, der gern in Gottes Schöpfung lebte.
Eine Einführung in die Sprache Gertruds gab Dr. Siegfried Ringler, der ihre "Exercitia spiritualia" – so der lateinische Name der Geistlichen Übungen – zweisprachig neu herausgegeben hat. Er würdigte das Buch als eine "Summe" ihres religiösen Wissens, Lebens und Erlebens. Zudem seien sie eine "Summe" der Theologie der Zeit, in der Gertrud von Helfta lebte. Allerdings, so Siegfried Ringler, würden sich gerade heute viele Menschen mit der Fremdheit der Sprache sehr schwer tun. Was sie schließlich daran hindere, die Kraft und die geistliche Sprengkraft zu erleben.
Die erfahrene Kraft des lebendigen Glaubens ist sicherlich die konkreteste Wirkung der Mystik, der Begegnung mit Gott, sei es in Visionen, sei es im Fühlen oder in Gedanken: Gott gibt dem Menschen Flügel zum Leben.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Montag, 23.10.2006