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Das Schulfach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde
Cottbus / Lübben (dw) - Seit August 1996 ist Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) reguläres Schulfach im Land Brandenburg. Genauso lange ist es her, dass katholische Familien beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ihre Klage gegen die Benachteiligung des katholischen Religionsunterrichts eingereicht haben.
Ob das Gericht das bestehende Schulgesetz absegnen oder aber die rechtliche Gleichstellung des von den Kirchen verantworteten Religionsunterichts mit LER verlangen wird, ist für die Verantwortlichen im Bistum Görlitz gegenwärtig noch nicht abzusehen.
Wie stehen katholische Eltern, Schüler und Religionslehrer heute zu LER? Welche Erfahrungen haben sie in den letzten Jahren mit dem Schulfach gemacht, das zurzeit von rund 65 400 (44 Prozent) der Siebt- bis Zehntklässlern besucht wird? Der Tag des Herrn sprach mit zwei Frauen, die beide gleich in doppelter Weise von dem Thema berührt sind: als Mütter und als Religionslehrerinnen in der Gemeinde.
Susanne Nominé aus Lübben gehört zu den Brandenburger Eltern, die in Vertretung ihrer Kinder beim Bundesverfassungsgericht als Kläger auftreten. Bis heute ist sie allerdings nicht einmal zu einer Anhörung geladen worden. Sie befürchtet, dass die Betroffenen längst die Schule verlassen haben, wenn der Fall endlich aufgegriffen wird. Für Schüler, die mit Religion zuvor überhaupt keine Berührung hatten, findet sie ein wertorientiertes Angebot wie LER durchaus akzeptabel. Gerade angesichts des wachsenden Rechtsextremismus werde deutlich, dass es an den Schulen dringenden Gesprächsbedarf über Werte gibt.
Kritisch sieht sie allerdings die Situation der katholischen Kinder und Jugendlichen und die Verwirklichung ihres verfassungsmäßig garantierten Rechts auf konfessionellen Religionsunterricht in der Schule. Für völlig unzureichend hält sie beispielsweise, wie Schulen die Religionsschüler über die Möglichkeit aufklären, sich mit einer Bescheinigung aus der Gemeinde von LER befreien zu lassen. Als das Fach an Lübbener Schulen eingeführt wurde, hat sie von einigen katholischen Schülern gehört, dass Lehrer ihnen nahe legten, nicht von dem Recht auf Befreiung Gebrauch zu machen. Mittlerweile würde bei den Informationsveranstaltungen für Eltern und Schüler in der Regel gar nicht erst auf die Abwahlmöglichkeit hingewiesen. Landesweit haben in diesem Schuljahr nach Informationen des Bildungsministeriums nur 3,6 Prozent der Schüler, die die Möglichkeit dazu gehabt hätten, Befreiungsanträge gestellt.
Auch Christine Schirmers Religionsschüler in Cottbus, Döbern und Drebkau erfahren am Ende des sechsten Schuljahres fast immer durch sie selbst und nicht aus der Schule von der möglichen LER-Befreiung. Wie ihre Kollegin Susanne Nominé hat sie keine grundsätzlichen Vorbehalte gegen das Fach als Angebot für die Mehrheit der nichtchristlichen Kinder - "wenn es nicht den Anspruch erhebt, allein selig machend zu sein, sondern gleichberechtigt neben evangelischem und katholischem Religionsunterricht steht."
Von ihren Schülern hat knapp Hälfte LER abgewählt, die Hälfte besucht es zusätzlich zum katholischen Religionsunterricht, ein geringer Teil nimmt in der Gemeinde am katholischen und in der Schule am evangelischen Unterricht teil. Die Gründe, sich nicht befreien zu lassen, sind vielfältig, weiß Christine Schirmer.
Wenn die katholischen Schüler mit dem Unterricht unzufrieden seien, entschieden sie sich meist doch noch für die Abwahl. Dies geschehe zum Beispiel, wenn sie während des Unterrichts wegen ihres Glaubens gehänselt werden und die Lehrer das nicht auffangen. Das sei jedoch eher die Ausnahme, glaubt die Religionslehrerin. Für die meisten Schüler sei LER "ein Fach wie jedes andere".
Manchmal komme es sogar vor, dass LER-Lehrer ihre christlichen Schüler bewusst aufforderten, im Unterricht von ihrem Glauben und ihren Positionen zu erzählen. Dann könne die Teilnahme von christlichen Schülern am LER-Unterricht eine echte Bereicherung für alle sein: für die Ungetauften, weil sie erlebten, dass es auch andere Meinungen und Erfahrungen gibt als die der Mehrheit, für die Katholiken, weil sie lernen, ihre abweichenden Auffassungen zu vertreten, für die Lehrer, weil sie ihr eigenes Wissen über das Christentum erweitern könnten.
Weniger gute Erfahrungen mit Schülern, die sowohl LER als auch katholischen Religionsunterricht besuchen, hat Susanne Nominé gemacht. Sie erlebt oftmals, dass die Siebtklässler verunsichert sind, wenn sie das Christentum und christliche Überzeugungen im LER-Unterricht als eine Religion vermittelt bekamen, die gleichrangig neben vielen anderen Denk- und Glaubensrichtungen steht, wenn dort beispielsweise das im Religionsunterricht bevorzugte traditionelle Familienmodell gleichwertig neben homosexuelle Lebenspartnerschaften und andere Lebensformen gestellt wurde. Christine Schirmer hat dagegen bisher immer den Eindruck gewonnen, dass die Schüler den Worten der Eltern und der Religionslehrerin mehr trauen als denen der LER-Lehrer, wenn diese in religiösen und ethischen Fragen abweichende Positionen vertreten.
Christliche Eltern sollten genauer hinsehen, welche Werte im LER-Unterricht vermittelt werden, wünschen sich beide Religionslehrerinnen. Das sei von Lehrer zu Lehrer sehr unterschiedlich, zumal es keine einheitlichen Schulbücher gebe. Die Chance des Religionsunterrichts, die wertorientierte Erziehung der Familien zu unterstützen, wird in ihren Augen zu wenig wahrgenommen. Zu oft werde der Religionsunterricht auch von den Eltern als eigentlich überflüssiges und unverbindliches Freizeitangebot betrachtet, bedauern sie.
Christine Schirmer hielte es für hilfreich, wenn in der Ausbildung der LER-Lehrer mehr religiöses Wissen vermittelt würde. Als sie selbst einmal ein Seminar für angehende LER-Lehrer über die Unterschiede von evangelischer und katholischer Kirche hielt, musste sie feststellen, dass die Lehrer fast nichts über die christliche Religion wussten und dass im Ausbildungsplan auch nur sehr wenig Zeit für die Information über Religionen zur Verfügung stand. Dass LER-Lehrer zu ihr kommen, um sich einmal durch die Kirche führen oder sich über bestimmte kirchliche Feste informieren zu lassen, kam bisher nur sehr selten vor. Ausnahme sei es auch, dass Schulen Interesse am katholischen Religionsunterricht zeigten, beispielsweise indem sie Leistungs- und Teilnahmenachweise verlangten: "Wenn das Kind einmal abgemeldet ist, ist für sie der Fall erledigt."
Gerüchte, dass das Bundesverfassungsgericht noch in diesem Jahr über die Klage der katholischen Kirche entscheiden wird, hält der Schulbeauftragte des Bistums Görlitz, Prälat Peter C. Birkner, für haltlos: "Solche Äußerungen hat es schon vor ein paar Jahren gegeben." Über die Gründe für die ungewöhnlich lange Wartezeit kann er nur Vermutungen anstellen.
Er hält es für denkbar, dass das Gericht die komplexen Auswirkungen dieser Entscheidung auf ganz Deutschland im Auge hat. Gegenwärtig verhandele die katholische Kirche mit dem Land Brandenburg, um in einzelnen Schulen dem katholischen Religionsunterricht den gleichen Status einzuräumen wie dem evangelischen: Der findet zwar nicht im Rahmen des regulären Stundenplanes, wohl aber in den Räumen der Schule statt.
Nach Birkners Auskunft besuchen im brandenburgischen Teil des Bistums Görlitz derzeit 1127 Schüler katholischen Religionsunterricht.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 29.03.2001