1975: Wahrhaftigkeit - Klugheit - Liebe
Damals... (14)
Besonders in den 70er und 80er Jahren erscheinen im Tag des Herrn zahlreiche Beitragsreihen von Fachleuten aus der katholischen Kirche in der DDR, die konkrete Hilfen für ein christliches Leben unter den DDR-Bedingungen boten. Mit Fragen des Gewissens beschäftigte sich beispielsweise der Erfurter Theologe Wilhelm Ernst 1975: Heißt das nun, dass wir immer und überall alles sagen, was wir wissen? Sicher nicht! Wahrhaftigkeit hat nichts zu tun mit Geschwätzigkeit oder gar mit Ohrenbläserei, um so mehr aber mit Klugheit und Liebe. Es gibt Situationen, in denen es nicht leicht ist, die Wahrheit zu sagen; aber es gibt auch Situationen, in denen wir uns in einer schweren Notlage, in einem Pflichtenkonflikt befinden, wo das Sagen der Wahrheit die Liebe verletzen würde, wo Schweigen nicht als Ausweg benutzt werden kann und wo man dem Bösen gleichsam ausgeliefert ist. War das Lüge, wenn in der Zeit der Naziherrschaft, zum Beispiel im Konzentrationslager, die manchem von uns noch aus eigenem Erleben bekannt ist, der Gegner in Irrtum geführt wurde, ein Gegner, der zudem noch jedes Recht auf Vertrauen verloren hatte und unser Vertrauen tausendfach missbrauchte? Wir Christen wissen, dass man niemals und unter keinen Umständen seinen Glauben verleugnen darf; aber wir wissen auch, dass in Grenzsituationen in Klugheit und Liebe abgewogen werden muss zwischen den einzelnen Werten, die durch eine richtige oder falsche Aussage verletzt werden ... Um so wichtiger ist es, dass wir ständig unser Gewissen bilden, damit wir in der Lage sind, das zu tun und zu sagen, was wahr ist vor Gott, vor uns selbst und vor den Menschen.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 31.08.2001