Wer singt, betet doppelt
Betrachtung eines Weihnachtsliedes
Es war neulich in der Christmette. Die Gemeinde sang das Lied "Ich steh an deiner Krippen hier" (im "Gotteslob" Nr. 141), da kam mir das Wort des heiligen Augustinus wieder in den Sinn: "Wer singt, betet doppelt". Der Bischof von Hippo wusste zu genau, dass beim Singen die tieferen Schichten des Herzens leichter in Schwingungen geraten als beim bloßen Sprechen. So dachte auch Paul Gerhardt, der dieses Lied geschrieben hat. Paul Gerhardt der protestantische Pfarrer und Dichter, dessen 400. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern.
Sein Liedtext "Ich steh an deiner Krippen hier" (blättern Sie, lieber Leser, liebe Leserin, ruhig einmal in ihrem Gesangbuch!) ist ein Liebesgedicht und es ist schlicht und einfach schön. Dieses Gedicht ist auch Gebet. Hier genügt ein "Ich", ein Mensch, nicht sich selbst, sucht seine Schönheit nicht in sich selbst, sondern im Du, im Anderen. Hier wird genau das gegenteilige Lebensgefühl so mancher Menschen von heute beschrieben. Dieses Lied richtet sich an das Kind in der Krippe, schaut auf das Kind und liefert sich dessen Blick aus.
Paul Gerhardt, ein Mensch an der Wende zur Neuzeit, ein Zeitgenosse des schrecklichen Dreißigjährigen Krieges, lebte und glaubte noch existentiell: "O Jesu, du mein Leben" heißt es in der ersten Strophe. Uns modernen Menschen fällt es oft schwer, uns so bedingungslos mit unserem eigenen Leben in den Händen Gottes zu bergen.
"Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren", so spricht uns die zweite Strophe an. Dieser Gedanke entlastet, weil ich weiß, dass ich das Heilswerk Gottes nicht erfinden muss. Gott selbst hat es schon begonnen, lange vor meiner Zeit. Gottes Angebot kommt nicht marktschreierisch und übertölpelnd daher, wie die Superangebote unserer Wohlstandsgesellschaft. Das Heil Gottes bietet sich in der Krippe an, und findet seine Vollendung am Kreuz.
"Ich lag in tiefster Todesnacht", hebt die dritte Strophe an. Paul Gerhardt wusste es und es gehört zu den grundlegenden menschlichen Erfahrungen, dass mein Leben zerbrechen kann. Jeder Mensch kennt die "schwarzen" Flecken seines Lebens.
In der vierten Strophe heißt es dann: "Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht sattsehen". Das ist die Sprache eines Liebenden, der zu nichts anderem im Stand ist, als in liebender Verzückung den anderen Menschen zu betrachten. Keine Worte mehr, nur ?anbetendes Stehenbleiben", wie es der Dichter ausdrückt.
Paul Gerhardts Dichtungen und Lieder haben nicht nur die Zeiten überdauert, sondern sind grenzübergreifend zwischen den konfessionellen Schranken geworden. Vielleicht nehmen wir sein Gedenkjahr zum Anlass, uns mit seinem reichen Werk wieder näher zu beschäftigen.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 04.01.2007