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Bistum Erfurt

Ein Schritt, Soziales neu zu denken

Eine Tagung der Thüringer Kirchen und großen politischen Stiftungen im Elisabeth-Jahr

Erfurt - Im Rahmen des Elisabeth- Jahres fand in Erfurt die Tagung "Das Soziale neu denken" statt. Veranstaltet wurde sie von katholischer und evangelischer Kirche sowie den beiden großen politischen Stiftungen in Thüringen.

In Zeiten der Raffke-Mentalität einzelner Manager und ungebremster Gewinnsucht mancher Unternehmen klingt es wie ein Märchen: Alexander von Witzleben ist Chef der Jenoptik AG und als solcher kümmert er sich mit seinem Unternehmen um den Bau eines Kindergartens auf dem Betriebsgelände. Jenoptik fördert das Zentrum für Familien und Alleinerziehende in Jena. Unterstützung gibt es für den Verein Special Olpmpics Thüringen, der Behinderte auf die Teilnahme an der Behindertenolympiade vorbereitet. Das Unternehmen hat außerdem ein Promotionsstipendium gestiftet und denkt über die Einrichtung einer Stiftungsprofessur nach. Gefördert werden Ausstellungen und Kunstprojekte sowie kulturelle Institutionen wie das Deutsche Nationaltheater Weimar, dessen Aufführung "Der Ring des Nibelungen" dadurch möglich wurde.

Das Image eines attraktiven Arbeitgebers

"Das Soziale neu denken" hieß eine Tagung in Erfurt, veranstaltet von den Kirchen und politischen Stiftungen im Rahmen des Elisabeth- Jahres, auf der Witzleben das Engagement seines Unternehmens erläuterte. Er hält es für selbstverständlich. Zum einen stehe man damit in der Tradition eines der Gründerväter des Unternehmens: Ernst Abbe hatte vor 120 Jahren Mindestlöhne und Überstundenzuschläge, Acht-Stunden-Tag und Gewinnbeteiligung, Betriebspension und -krankenkasse, Abfindung und Urlaubsanspruch eingeführt. Heute alles selbstverständlich, aber auch unter veränderten Bedingungen bleibt der soziale Grundgedanke. "Wir müssen ein attraktiver Arbeitgeber sein, denn langfristig ist das Image eines Unternehmens wettbewerbsentscheidend."

Sind Witzleben und Jenoptik die große Ausnahme in der deutschen Unternehmenslandschaft? Nein, meint der Unternehmer, denn in Zeiten knapper werdender Fachkräfte bemerkt er etwa bei der Lektüre einschlägiger Managermedien einen Wandel im Denken der Kollegen. Grund: Ganz uneigennützig ist dieses Engagement nicht. Witzleben gesteht das auch ein: Der Kindergarten etwa kann im Falle von Überstunden schnell und flexibel in der Frage der Kinderbetreuung der Mitarbeiter reagieren. Und die Förderung der Attraktivität eines Standortes bindet hochqualifizierte Fachkräfte ans Unternehmen – in Zeiten, in denen Witzleben händeringend nach solchen Mitarbeitern sucht. In Jena können 40 Stellen nicht besetzt werden.

Nun sind nicht alle Probleme des Sozialstaates Deutschland durch solches Unternehmens-Engagement zu lösen. Ein Anfang, das Soziale neu zu denken, ist es aber, denn es liegt ganz auf der Linie einer "neuen Theorie des Sozialen", die die Sozialethikerin der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, Elke Mack, auf der Tagung skizziert hat.

Für das Soziale gebe es heute drei Leitbilder (siehe Stichwort): den sozialen Wohlfahrtsstaat, das neoliberale Modell und die christliche Soziallehre. Ein Unternehmen wie Jenoptik stellt sich im Sinne der katholischen Soziallehre seiner sozialen Verpflichtung und schiebt sie nicht auf den Staat ab – auch wenn damit nicht zuerst die so genannte Unterschicht erreicht wird, mit der die sozialen Probleme in Deutschland besonders zusammenhängen.

Beteiligungsgerechtigkeit für alle

Diese Menschen haben in Elke Macks neuer Theorie des Sozialen ihren Platz: "Es gibt keinen Einzelnen der Gesellschaft, der so wenig qualifiziert ist, dass auf dessen Beitrag verzichtet werden könnte." Weder reine Verteilungs- noch Leistungsgerechtigkeit seien Maßstäbe für die Neujustierung des Sozialstaates, sondern "das Konzept der Beteiligungsgerechtigkeit für alle, insbesondere für die am meisten Benachteiligten". Das Soziale sei als "bedarfsgerechte Beteiligung von Menschen an den Chancen der modernen Gesellschaft zu sehen. Gemäß der christlichen Option für die Armen zeichnen insbesondere konkrete Vorteile für die am meisten Benachteiligten einen Staat als einen sozialen aus."

Da die geschichtliche Entwicklung des bundesdeutschen Sozialstaates eng mit der katholischen Soziallehre verbunden ist, wundert es nicht, dass in rechtlicher Hinsicht vieles mit deren Ideen übereinstimmt. Der ehemalige Thüringer Justizminister und Bundesverfassungsrichter a. D. Hans-Joachim Jentsch wies darauf hin, dass soziale Gerechtigkeit zu bewirken ein staatlicher Auftrag sei, aber nicht im Sinne eines Grundrechtes sondern als Staatszielbestimmung. Dem Einzelnen wird kein Anspruch auf eine angemessene Versorgung eingeräumt, sondern nur auf die Gewährleistung des Existenzminimums. Grund dafür sei, dass die soziale Versorgung Bedürftiger tiefe Eingriffe in Grundrechte Nichtbedürftiger zur Folge habe: Steuern und Sozialabgaben, Zwangsmitgliedschaften in Versorgungswerken und gesetzliche Versicherungspflicht. Die Freiheit des Einzelnen aber sei im Grundgesetz das entscheidende Prinzip. Beide Belange miteinander in einen möglichst großen Einklang zu bringen, sei die Aufgabe des Gesetzgebers. Dabei sieht Jentsch gegenwärtig eine Tendenz zur Institutionalisierung der sozialen Sicherung, die "neben dem gewichtigen Vorteil der Sicherheit und Unabhängigkeit im Falle der Bedürftigkeit den Verlust der sozialen Wärme und Nähe kleiner Gemeinschaften" wie der Familie mit sich bringe.

Bestand im ersten Teil der Tagung (Theoretische Leitbilder des Sozialen) weitgehend Einigkeit, zeigten sich im zweiten Teil (Praktische Handlungsfelder) die Fülle der konkreten sozialen Probleme, aber auch die Differenzen in der Herangehensweise an eine Lösung: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Ausgestaltung der Bildungspolitik, Gesundheitsreform und Steuerpolitik, konkrete Sozialleistungen und Förderung von Ehe und Familie waren Stichworte, über die Thüringens Sozialminister Klaus Zeh (CDU), die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD), der Mediziner Axel Ekkernkamp und der mitteldeutsche Diakonievorsitzende Eberhard Grüneberg diskutierten. Lösungen gab es keine, sie waren auch nicht zu erwarten. Vielleicht hat sich wenigstens die von Thüringens Landesbischof Christoph Kähler am Beginn der Tagung ausgesprochene Hoffnung – "Lassen Sie uns gegenseitig unsere Positionen in Frage stellen" – erfüllt. Dass beide Kirchen gemeinsam und zusammen mit der CDU-nahen Konrad-Adenauer- sowie der SPDnahen Friedrich-Ebert-Stiftung die Tagung veranstalteten, ist Grund zur Hoffnung. Denn die sozialen Fragen brauchen dringend Lösungen und dazu ist neben "dem wachen Blick des Einzelnen auch ein System nötig, in dem der Einzelne helfen kann", betonte Bischof Joachim Wanke. Notwendig sei neben einem Mentalitätswandel auch eine Besinnung auf die Grundlagen des Sozialen. Dazu war die Erfurter Tagung "Das Soziale neu denken" ein Schritt.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 6 des 57. Jahrgangs (im Jahr 2007).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Dienstag, 13.02.2007

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