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Aus der Region

Der Mensch und die Zeit

Fünftes Hallenser Gespräch versammelte Vertreter unterschiedlichster Fachrichtungen

Halle - Vielschichtiger als es auf den ersten Blick scheint, prägt die Zeit alle Bereiche menschlichen Lebens. Ob es etwa um naturwissenschaftliche Fragen, um psychotherapeutische Heilmethoden oder um Religion und Glaube geht, immer spielt im Hintergrund die Zeit eine entscheidende Rolle.

Gehört die Zeit wesensmäßig zum Menschen? Ist der Mensch Gefangener der Zeit? Macht er Erfahrungen, in denen die Zeit nicht mehr wichtig ist, ja gar nicht existiert? Was ist Zeit überhaupt? Fragen, die beim fünften Hallenser Gespräch unter dem Thema "Der Mensch und die Zeit" diskutiert wurden. Zu dem Symposium am 23. und 24. Februar waren 140 Interessierte ins Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara in Halle (Saale) gekommen.

"Der Mensch ist zugleich Schöpfer und Opfer seiner Vorstellungen von Zeit", formulierte der Soziologe Kurt Weis aus München. "Zeit verdeutlicht, markiert, begrenzt Leben." Fragt man allerdings etwa Philosophen, Psychologen, Physiker oder Religionswissenschaftler nach der Zeit, so gibt jeder der Fachleute eine andere Antwort. Schon vor Jahrhunderten hätten Denker wie Augustinus deutlich gemacht, wie schwierig es ist, die Zeit zu beschreiben. "Je weiter entwickelt eine Zivilisation ist", das steht jedoch für Weis fest, "um so wichtiger wird die Wahrnehmung von Zeit."

meditative Räume vorstößt, um so mehr verliert die Zeit an Bedeutung. Auch dies sei Menschheitserfahrung in allen großen Kulturkreisen, so Kurt Weis weiter. Mystiker wie Meister Eckart etwa berichteten von der Erfahrung "zeitloser Gleichzeitigkeit".

"Heute leben wir erstmals in einer Kultur, in der es der Mensch darauf anlegt, nicht mehr zur Besinnung zu kommen. Das hat es so noch nie gegeben", betont der Soziologe. Doch es gelte, was Jean Gibson formuliert hat: "Ich habe keine Zeit" ist gleichbedeutend mit "Ich habe keine Seele" und "Ich habe kein Leben."

In der Psychoanalyse wird zwischen linear progressivem und zirkulärem Zeitverständnis unterschieden. Darauf machte der Psychoanalytiker Karsten Münch aus Bremen aufmerksam. Während ersterer Begriff das Zeitverständnis des Menschen im Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschreibt, steht der zirkuläre Begriff im engen Zusammenhang mit der Zeitlosigkeit des Unbewussten. Trauma-Opfer etwa erlebten das, was ihnen vor vielen Jahren widerfuhr, so, als ob es augenblicklich geschieht. Die Zeitlosigkeit des Unbewussten, so Münch, erfordert in der Psychoanalyse vom Arzt, sich wie das Unbewusste zeitlos zu verhalten, also auf kurzfristige Erfolge zu verzichten, trotz zeitlich befristeter Therapiemöglichkeit. Auch im Traum würden verschiedene Zeitschichten miteinander verbunden. Auf andere Weise wie etwa bei Trauma-Opfern habe auch die Depression etwas mit Problemen der Zeiterfahrung zu tun.

Zeitempfi nden wird vom Kleinkind erlernt

Der Psychologe wies darauf hin, dass Kinder erst mit rund fünf Jahren ein korrektes Zeitempfi nden entwickeln. Zeit sei das Resultat von gelingenden Primärbeziehungen im Säuglings- und Kleinkindalter und Ergebnis menschlicher Denkfähigkeit. "Am Anfang des Denkens und des Zeitempfi ndens steht der Mangel an befriedigenden Objektbeziehungen", so Münch. "Im Erleben des Mangels und des Schmerzes lernt der Mensch, dass nichts bleibt, wie es ist, und erfährt Zeit." Dieser Mangel dürfe nicht zu lange andauern. Zeit kann sich dann zur abstrakten Kategorie entwickeln. Orte, wo kein Mangel herrscht, werden hingegen zeitlos erlebt und gedacht.

Der Erfurter Philosoph Eberhard Tiefensee erinnerte daran, dass jedes Nachdenken über die Zeit immer in der Zeit geschieht. Zeit, aber etwa auch Sprache, Freiheit, Leiblichkeit oder Leben seien "Phänomene, die der Mensch zwar ,vor sich bringen‘ kann, die ihm aber immer sozusagen ,im Rücken‘ bleiben". Die Frage nach der Zeit sei "ein Schlüsselproblem für die Interpretation von Mensch und Wirklichkeit". Tiefensee: "Die Zeit ist kein schlicht vorgegebenes, objektives, sondern ein refl exives Phänomen, das erst im Nach-Denken erscheint. Sie ist Produkt der Kultur." Zugleich aber ist Zeit nach Immanuel Kant "als Form der Wahrnehmung kein Ergebnis von bestimmten Erfahrungen, sondern die Form der Wahrnehmung, die Erfahrungen überhaupt erst möglich macht". Zeit ist das Medium, in dem der Mensch wahrnimmt. Tiefensee weiter: "Die Frage nach der Zeit wird zur Suche nach Sinn." Augustinus etwa habe dieses mit dem Satz beschreiben: "Du hast uns zu Dir hin erschaffen, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht, o Gott, in Dir." Tiefensee: "Das entscheidend Menschliche ist das Wissen um das Sein zum Tode und zur Ewigkeit."

Wie sind Zeit und Ewigkeit zusammenzubringen? Dieser Frage ging Regina Radlbeck-Ossmann aus Halle nach. Anhand von Modellen erläuterte die Professorin für Systematische Theologie / Dogmatik, wie zu denken ist, dass Gott in seiner Ewigkeit die Zeitlichkeit der Welt umgreift, aufbewahrt, vollendet und erhöht. "Das Modell der Auferstehung im Tod geht davon aus, dass die Zeit in der Ewigkeit geborgen ist", so Radlbeck- Ossmann. "Da in dieser jeder Verlauf von Zeit ausgeschlossen ist, erlebt der einzelne Tote mit seinem Tod das Ende der Welt."

Gottes Ewigkeit umschließt die Zeit

Am Beispiel der Kreisgrabenanlage von Gosek (südlich von Halle) aus der Zeit von 4900 vor Christus und mittels der bei Nebra gefundenen Himmelsscheibe erläuterte der Direktor des Landesamtes für Denkmalpfl ege und Archäologie, Harald Meller, wie Menschen zu einer genaueren Zeiteinteilung gelangten. Weil das bereits bekannte Mondjahr mit seinen je 28 Tage langen Monaten zu ungenau war, um danach zum Beispiel den Acker zu bestellen, suchten Findige nach einer Lösung, die Zeit unter Einbeziehung der Sonne zu bestimmen. Sie fanden sie, in dem sie mit Hilfe einer Kreisanlage von dicht aneinander gefügten Pfählen den Horizontverlauf der Sonne beobachteten und so etwa den Tag der Sommer- und den der Wintersonnenwende bestimmen konnten, so der Archäologe.



Informatioen

Mehr: www.kaththeol.uni-halle.de/arbeitsbereiche/

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 10 des 57. Jahrgangs (im Jahr 2007).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Samstag, 10.03.2007

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