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Anstoß

Die Russen kommen!

Den einzelnen Menschen sehen

Guido Erbrich

Bei uns zu Hause wird manchmal von den Russen erzählt. Als sie 1945 nach Schlesien kamen, hatten fast alle Angst vor ihnen. Und natürlich gelangten sie auch in das Dorf, wo meine Großeltern wohnten. Eines Tages kamen drei Russen in das Haus. Meine Oma und ihre drei Kinder waren da, die Mädchen versteckten sich schnell. Lärmend zogen die Soldaten durch die Räume. Schließlich erreichten sie die Küche, wo meine Oma saß. Sie schrien laut und einer fuchtelte mit seiner Pistole herum. Plötzlich hielt er sie meiner Oma an die Schläfe. Er konnte sich vor Lachen kaum halten über die Todesangst der vor ihm sitzenden Frau.

So sind sie also, die Russen, dachte ich mir, als ich als Kind die Geschichte zum ersten Mal hörte: Brutal, unzivilisiert, barbarisch. Viel Zeit zum Nachdenken blieb mir nicht, denn gleich darauf wurde eine zweite Geschichte erzählt. In den selben Jahren ging meine Tante mit ihrem fünfjährigen Bruder durch die Straßen in Neiße, ihrer Heimatstadt.

Plötzlich kommt ein Russe die Straße entlang und geht direkt auf meine Tante zu, die damals eine hübsche junge Frau war. Ihre erste Reaktion: Angst. Sie wusste ja, was in dieser Zeit oft mit jungen Frauen passierte. Da öffnet der Russe seinen Mantel und reicht ihr ein frisches Brot, das er unter dem Arm trägt. "Für dich und dein Kind", sagt er in gebrochenem Deutsch und geht weiter. Meine Tante und meinen Vater lässt er überrascht und dankbar zurück.

Diese beiden Geschichten werden bei uns zu Hause immer zusammen erzählt. Sie haben mich als Kind schon durcheinander gebracht, weil ich danach gar nicht so recht sagen konnte, wie die Russen eigentlich sind.

"Pass auf, wenn dir jemand die Eigenschaften bestimmter Menschen, Gruppen und Rassen einreden will. Genau dort beginnt die Lüge, wo verallgemeinert wird." Das haben mir meine Tanten schon als Kind mit auf den Weg gegeben. "Du musst immer auf den einzelnen Menschen schauen. Seine Rasse, Religion, Hautfarbe, Herkunft sind zweitrangig, du kannst überall Schufte und Engel finden."

Nein, ich weiß bis heute nicht, wie "die Russen" sind – und ganz ehrlich – ich möchte es auch nicht wissen, wenn es mir jemand erzählen will.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 11 des 57. Jahrgangs (im Jahr 2007).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 15.03.2007

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