Zwischen Individualismus un Kollektivismus
von Pater Damian
,,Der hochwald erzieht seine bäume // Sie des lichtes entwöhnend, zwingt er sie, / all ihr grün in die kronen zu schicken / Die fähigkeit / mit allen zweigen zu atmen, / das talent, / äste zu haben nur so aus freude, / verkümmern // Den regen siebt er, vorbeugend / der leidenschaft des durstes // Er lässt die bäume größer werden / wipfel an wipfel: / Keiner sieht mehr als der andere, / dem wind sagen alle das gleiche //" In diesem 1962 entstandenen Gedicht beschreibt der Dichter Reiner Kunze meisterhaft die Kennzeichen einer kollektivistischen Gesellschaft: Planung, feste Zielvorgaben, Gleichschaltung, Verzweckung des Einzelnen. Das Individuum hat sich anzugleichen und vorgegebenen Normen unterzuordnen. Es bleibt wenig oder kein Raum für persönliches Wachstum und für Eigenarten.
In unserer heutigen Gesellschaft scheint das Pendel nach der Gegenseite ausgeschlagen zu haben: Wir klagen über einen sich überall breitmachenden Individualismus: Zu viele Menschen suchen selbstsüchtig ihr Glück, ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl, Rechte bekommen ein Übergewicht gegenüber Pflichten, aus dem reichlichen Angebot einer pluralistischen Gesellschaft bauen sie sich eine Lebensphilosophie zusammen, um ,,nach eigener Fasson selig zu werden". Der Begriff der Selbstverwirklichung wird in der Praxis oft zur Bemäntelung egoistischer Verhaltensweisen missbraucht.
Wo aber erscheint das echte Bild des Menschen? Es muss doch wohl irgendwo zwischen den genannten Extremen sichtbar werden. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber schreibt: ,,Der Individualismus sieht den Menschen nur in der Bezogenheit auf sich selbst; aber der Kollektivismus sieht den Menschen überhaupt nicht, er sieht nur die ,Gesellschaft'. Dort ist das Antlitz des Menschen verzerrt, hier ist es verdeckt."
Der Mensch ist von Hause aus ein soziales Wesen. Er wird nur dann eine reife Persönlichkeit, wenn er sich dem anderen öffnet, wenn er, wenn es nötig ist, von sich absehen und sich dem Wohl des anderen widmen kann. Mit anderen Worten: Wenn er lieben kann. Der liebende Mensch weiß um seinen eigenen Wert, seine Talente und Gaben, die er im Dienst für das Gemeinwohl einbringt. Je mehr er seine Gaben einsetzt, um so mehr ,,gewinnt" er selbst. Und der Christ ist überzeugt von seiner eigenen unverwechselbaren Berufung, die immer auch eine Sendung, eine Aufgabe ist (vgl. Röm 8,28; 1 Kor 12,11).
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 31.08.2001