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Aus der Region

Europa ohne Gott?

Gastbeitrag von Dr. Martin Borowsky zur Grundrechtecharta der Europäischen Union

Dr. Martin Borowsky Dr. Martin Borowsky ist Richter am Landgericht Erfurt. Derzeit ist er an die Thüringer Staatskanzlei abgeordnet, um das Projekt der Grundrechtecharta der Europäischen Union (EU) zu betreuen. Er nahm an den Konventssitzungen in Brüssel teil. Im folgenden Gastbeitrag äußert er sich zum Streit um die religöse Frage in der EU-Charta:
"Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen", so beginnt die Präambel des deutschen Grundgesetzes. Nicht so die EU-Grundrechtecharta, die vom Brüsseler Konvent im letzten Jahr ausgearbeitet und auf dem Gipfel von Nizza am 7. Dezember 2000 proklamiert wurde. In der Charta ist von Gott nicht die Rede. Dafür sorgte Frankreich mit seiner strikten Trennung zwischen Kirche und Staat und seiner streng entsprechenden Tradition, die Glauben und Religionsausübung ganz dem privaten Bereich zuweist.
Eine Anrufung Gottes war in dem Konvent von vornherein nicht durchsetzbar; die vielbeschworene "Wertegemeinschaft Europa" stieß hier an ihre Grenzen. Die im Konvent vertretene "Familie" der europäischen Christdemokraten versuchte, wenigstens das religiöse Erbe Europas in der Präambel zu verankern - und damit eine historische Selbstverständlichkeit anzuerkennen. Dies gelang zunächst, nämlich in dem Mitte September 2000 vorgelegten Entwurf der Charta. Dessen französische Ausgangsfassung enthielt den gewünschten Bezug auf das "religiöse Erbe".

Nur wenige Tage später allerdings griff der französische Premierminister Lionel Jospin persönlich zum Telefon, um dem Vorsitzenden des Konvents, Roman Herzog, das französische Veto zu übermitteln - ein Vorgang, der in Frankreich selbst auf heftige Kritik stieß, etwa seitens des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Fieberhaft suchte der Konvent nach einer alternativen Formulierung, die man im französischen Text mit "patrimoine spirituel" (wörtlich "spirituelles Erbe") fand. Einem weiteren, buchstäblich in letzter Minute unternommenen Vorstoß insbesondere der deutschsprachigen Christdemokraten ist es zu verdanken, dass diese Begriffe wenigstens in der deutschen Endfassung der Charta mit "geistig-religiöses Erbe" übersetzt wurden. Augenwischerei?

Wie wichtig ist dem zukünftigen Europa die Berufung auf seine jüdisch-christliche Kulturtradition? Zeigt sich in der fehlenden Anrufung Gottes, in dem verwässernden Begriff der Spiritualität ein "Selbsthass des Abendlandes" (Kardinal Ratzinger)? Ein weiterer Mosaik-stein der Entchristianisierung? Oder ist diese Sicht zu düster? Immerhin ist ein breiter Strom - zumindest auch - jüdisch-christlicher Wertvorstellungen in die Charta eingeflossen - von der Menschenwürde in Artikel 1 über das Verbot der Todesstrafe bis hin zum Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Auf dieser Grundlage könnte die Charta gar zur Entstehung eines "europäischen Bewusstseins" beitragen.

Das Ringen um das Selbstverständnis Europas geht weiter. Die Charta, die die geistige Situation in Mittel- und West-europa spiegelt, ist der Kristallisationspunkt der europaweit geführten Wertediskussion - einer Diskussion, an der sich auch eine noch zu fundierende "Theologie der Menschenrechte" beteiligen sollte. Die Charta soll nämlich der Kern eines europäischen Verfassungsvertrages werden - mit einer eigens dafür zugeschnittenen, neuen Präambel. Spätestens dann wird auch der - im Wesentlichen "deutsch-französische", aber zugleich innerfranzösische - Streit um die "religiöse Frage" wieder aufbrechen ...

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 34 des 51. Jahrgangs (im Jahr 2001).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 31.08.2001

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