Gegen das Vergessen
Gedenkstätte in Hötensleben erinnert an eine Ordensfrau, die 1951 an der innerdeutschen Grenze starb
"Die Erinnerung an Tote ist ein Akt der Barmherzigkeit." Mit diesen Worten würdigte die Provinzoberin der Olper Franziskanerin Schwester Alexa Weismüller, ein nun gesegnetes Mahnmal, das an ihre Ordensschwester Sigrada Witte erinnert. Mit einem gut drei Meter hohen Holzkreuz und einem Stein, der die Lebensdaten der Ordensfrau dokumentiert, wird an die unter bis heute ungeklärten Umständen im August 1951 zu Tode gekommene Schwester Sigrada erinnert.
Die damals 51-jährige Franziskanerin, die im Waisenhaus in benachbarten Oschersleben tätig war, wollte heimlich die zu dieser Zeit noch offene Grenze zwischen beiden deutschen Staaten überqueren. Ihr Ziel: das heimische Meggen (nahe Olpe) -ihr Vater wollte wenige Tage später seinen 80. Geburtstag feiern. Sie kam dort nie an. Schwester Sigrada wurde tot an der Grenze gefunden. Offizielle Ursache: ein Herzinfarkt.
Doch Zeitzeugen erzählen eine andere Geschichte: "Wissen Sie, ich war damals elf Jahre alt und habe in dem Gelände gespielt -was Jungen in dem Alter eben so machen", berichtet Günther Drewes. Auch an jenem verhängnisvollen Tag war der heute 67- Jährige, dessen Eltern in Grenznähe einen Garten unterhielten, mit Freunden unterwegs. "Wir haben dann einen Schuss gehört." Zuerst dachten sie an Jäger, doch haben sie "eine Frau in Ordenstracht entdeckt, die blutüberströmt am Boden lag." Russische Soldaten hätten die Jungen umgehend weggescheucht. "Wären wir 20 Jahre oder älter gewesen, hätte man uns bestimmt eingesperrt", ist sich Drewes sicher. Als er später seiner Mutter von den Ereignissen berichtete, schärfte diese ihm ein, ja nichts davon anderen zu erzählen. "Daher ist die Geschichte fast in Vergessenheit geraten."
Auch Horst Paritz kennt diese inoffizielle Version der Geschichte: "Wir hatten 1951 Ferienkinder aus dem Waisenhaus der Schwestern zu Gast", erzählt der heute 84-Jährige. Die Kinder seien aufgeregt nach Hause gekommen, weil sie "ihre" Schwester Sigrada an der Grenze gesehen hätten -mit einem Loch in der Schläfe. "Wir konnten damals ja nichts sagen. Doch ein Herzinfarkt war das sicher nicht."
Beide Zeitzeugen waren auch Gast der feierlichen Einweihung des Mahnmals, das auf eine Initiative von Jürgen Wolke zurückgeht. Wolke ist Küster der Hildesheimer Basilika St. Godehard und gebürtiger Hötenslebener. Zum Zeitpunkt der Ereignisse war er allerdings erst sechs Monate alt. Wolke hatte bei seiner Initiative stets betont, dass es ihm nicht um Schuld oder Anklage, sondern um Erinnerung gehe. "Der Tod von Schwester Sigrada ist eine Folge der deutsch-deutschen Teilung und darf daher nicht vergessen werden."
Das unterstrich auch die Provinzoberin, Schwester Alexa bei der Segnung der Gedenkstätte, die mit einem Gottesdienst und einer Prozession begonnen hatte. "Hier wird Schwester Sigrada namentlich gedacht und sie gerät nicht in Vergessenheit." Kein Opfer von Gewalt darf vergessen werden. Das Vergessen bereitet den Boden für die Unmenschlichkeit. Mit diesem Ort wurde in Hötensleben eine Stätte des Innehaltens und stillen Gedenkens geschaffen. Kein Mensch habe es verdient, namenlos bestattet zu werden.
Für den Vorsitzenden des Hötenslebener Grenzdenkmalvereins, Achim Walther, hat die Gedenkstätte noch weitergehende Bedeutung: "Zwischen 1945 und 1952 sind 26 Menschen in der Feldmark bei Hötensleben zu Tode gekommen -auch unter ungeklärten Umständen." Nun sei ein Ort entstanden, an dem nicht nur Sr. Sigrada gedacht werden kann, sondern aller Opfer.
Initiator Jürgen Wolke zeigte sich beeindruckt: "Die Anteilnahme hat mich sehr gefreut." Ob die im Zuge seines Einsatzes öffentlich gewordenen Augenzeugenberichte noch zu einem gerichtlichen Verfahren führen, müsse überlegt werden. Eines aber ist ihm klar: "Was der Gedenkstätte noch fehlt, ist eine Hinweistafel zur Erklärung der Ereignisse."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 02.08.2007