Gemeinsam Brot gegessen
Die DDR-Vergangenheit ruhen lassen? Erwin Heretschs Buch "Unbequem" ist ein Plädoyer dagegen
Leipzig - Die Geschichte des Lehrers Erwin Heretsch, der wegen seines christlichen Engagements in den 50er Jahren aus dem Schuldienst verwiesen wurde, sei kein Einzelfall gewesen, schreibt der Dresdner Bischof Joachim Reinelt im Vorwort zu Heretschs autobiografischen Buch "Unbequem".
Nach der Wende habe man sich einseitig auf die Informellen Stasi-Mitarbeiter fixiert und andere Kapitel der DDR-Geschichte zu wenig aufgearbeitet, bemängelt der Bischof - eine Ansicht, die in Zeiten lauter werdender Forderungen, unter die DDR-Vergangenheit einen Schluss-Strich zu ziehen, nicht überall auf Gegenliebe stößt.
Herr Heretsch, auch Ihnen schlug im Bekanntenkreis einige Skepsis entgegen, als Sie Ihr Buch-Vorhaben publik machten. Was sagen die Skeptiker jetzt, nachdem Sie das Buch gelesen haben?
Das hält sich in etwa die Waage: Die einen sind nach wie vor skeptisch, bei den anderen hat sich die Sicht der Dinge im Laufe der Lektüre zum Positiven gewandelt.
Eindrucksvoll schildern Sie die Begegnungen mit dem Direktor des Instituts für Lehrerbildung und mit seiner Frau, die maßgeblich dafür verantwortlich waren, dass Sie Ihren Lehrerberuf aufgeben mussten. Sie haben Hass- und Rachegefühle überwunden und sich mit den beiden versöhnt. Was war ausschlaggebend dafür, dass Versöhnung möglich wurde?
Ausschlaggebend war sicher, dass jetzt eine Begegnung von Mensch zu Mensch möglich war. Zuvor gab es ja nur ein Zusammentreffen von Mensch und Funktionär. Ich habe gesehen, wie schwer es für die beiden war, sich zur damaligen Realität zu bekennen. Ihr Ringen darum habe ich anerkannt. Ein unvergesslicher Augenblick voller Symbolkraft war für mich die gemeinsame Mahlzeit mit der Frau des Direktors: Wir haben gemeinsam Brot geschnitten, Tee gekocht und gegessen. Da konnte sie über ihren Schatten springen ...
Ist der Kontakt seither wieder abgerissen?
Nein. Ich hatte jahrzehntelang einen immer wiederkehrenden Traum -dass ich bei diesem Ehepaar klingele und frage: "Habt ihr nicht mal 'ne Tasse Kaffee für mich?" Der Traum ist Wirklichkeit geworden. Jedesmal, wenn ich dort in der Nähe bin, rufe ich vorher an und bekomme dann immer eine Tasse Kaffee. Wir sprechen über alles Mögliche, über jene Zeit sprechen wir aber nicht mehr.
War das ein Einzelfall oder haben Sie sich bei weiteren Personen um Versöhnung bemüht?
Mit zwei Personen, die in meiner Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt haben, gab es ebenfalls Bemühungen. Darüber ist in meinem leider vergriffenen Buch "Gegen den Strom" zu lesen. Einer davon war mein Stasispitzel, ein evangelischer Pfarrer. Ich habe ihn eingeladen. Er hat sich gegen das Eingeständnis, etwas Böses getan zu haben, gewehrt, bis ich ihn so überführt habe, dass er nicht mehr leugnen konnte. Dann sagte er dreimal "Ich schäme mich".
Denken Sie im Nachhinein, dass Sie berufliche Nachteile allein für Ihr christliches Zeugnis erlitten haben oder auch für Ihre Lust am Provozieren?
Meine Lust am Provozieren war gering. Ich wusste ziemlich genau, was ich mir bei wem erlauben durfte. Mir war immer klar, "wenn sie dich einsperren, bist du allein Schuld". Nach meiner Entlassung als Lehrer, als ich im kirchlichen Dienst war, habe ich den Schutz der Kirche genossen. Da verging kein Vortragsabend ohne Provokation. Ich habe die Freiheiten ausgeschöpft, doch auch in dieser Zeit kannte ich meine Grenzen.
Interview: Dorothee Wanzek
Heretsch, Erwin: "Unbequem : Erinnerungen eines DDR-Christen." Leipzig : St. Benno-Verlag, 2007, ISBN: 9783746221489
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 02.08.2007