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Anstoß

Das Fragment

Im Bruchstück ein Bild des Ganzen

Susanne Schneider

Kürzlich redete ich mit Freunden von einem Menschen und einer sagte von ihm: "Der ist perfekt!" Die anderen widersprachen: "Nein, das kann nicht sein, kein Mensch ist perfekt! Nobody is perfect! Jeder Mensch ist begrenzt und hat bestimmte Schwächen und Fehler. An jedem gibt es etwas auszusetzen. Wenn man lange genug sucht, findet man an jedem Menschen Schwachstellen."

Diese Erkenntnis ist eigentlich banal und selbstverständlich. Und trotzdem wurde uns in diesem Gespräch bewusst, wie sehr wir gegen jedes bessere Wissen dauernd nach Perfektion suchen. Wir halten Ausschau nach dem perfekten Menschen, dem tollsten Job, der besten Freundschaft, dem schnellen Geld, dem nie endenden Glück und der vollkommenen Harmonie. Viele Lebensbereiche arbeiten mit dieser menschlichen Sehnsucht und leben davon: Die Werbung redet uns beim Kauf bestimmter Produkte ein, am Ziel unserer Wünsche zu sein. Außerdem ist es ihre Aufgabe, uns weitere, bisher noch nicht gespürte Sehnsüchte und Wünsche einzupflanzen, die dann auch wiederum nur gestillt werden können, wenn wir weitere Produkte kaufen und konsumieren.

Offensichtlich ist dieser Wunsch nach Ganzheit, Perfektion, Vollendung ganz tief in uns verankert. Wenn wir jemanden trösten wollen, sagen wir "alles wird gut" -obwohl wir eigentlich ganz genau wissen, dass es diesen Zustand nie geben wird.

Fast alles in unserem Leben bleibt Stückwerk und findet keine Vollendung. Da ist es zunächst einmal nützlich, diese Erkenntnis anzunehmen. Es bringt nichts, wenn wir als Erwachsene dieser Realität unseres Lebens ausweichen und uns selbst etwas vormachen.

Doch gleichzeitig dürfen wir unserer Sehnsucht trauen, selbst wenn sie immer ein Stück über das Erlebte hinausgeht. Es bringt nichts, die Erwartungen nach unten zu schrauben, nur weil sie nie völlig erfüllt werden können.

Wenn man dies tut, ist man am Schluss unzufrieden und unerfüllt, genauso wie derjenige, der völlig unrealistische und überzogene Erwartungen hat.

Es ist ja nicht so, dass wir nicht im Stückwerk auch eine Ahnung der Vollendung schon hier und heute erleben. Es gibt Augenblicke, die wir aus ganzem Herzen genießen und manchmal zeigen sich im Unvollkommenen Spuren des Ewigen, des Endgültigen, des "Himmlischen". Wir dürfen ihnen trauen, sie dankbar annehmen und auskosten.

Sr. Susanne Schneider,
Missionarinnen Christi,
Kontaktstelle Orientierung Leipzig

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 35 des 57. Jahrgangs (im Jahr 2007).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 30.08.2007

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