Veränderter Blick auf Menschen
"Seitenwechsel" -Porsche-Mitarbeiter arbeitete eine Woche lang für Leipziger Wohnungslose
Hoher Qualitätsanspruch: Samuel Kermelk bei der Essenausgabe in der Leipziger Oase.
Ganz freiwillig hatte der Assistent des Porsche-Geschäftsführers seinen Zeitjob im ökumenischen Tagestreff für Wohnungslose nicht angetreten, doch am Ende seines fünftägigen Einsatzes befand er das außergewöhnliche Ausbildungsmodul für "echt top". "Ich war überrascht, wie professionell hier gearbeitet wird und wie sauber alles ist: eine warme, freundliche Einrichtung", beschreibt der 28-Jährige seine ersten Eindrücke. Die Berührungsängste, mit denen er zu der Einrichtung im Leipziger Stadtzentrum gefahren war und die besorgte Frage "Werde ich das hier überhaupt durchhalten?" waren schnell vergessen. An seinem ersten Arbeitstag in der Küche fiel ihm auf, wie liebevoll das gesunde und hochwertige Essen zubereitet wurde. Er gewann im Laufe der Tage Einblick in alle Arbeitsbereiche der Kontaktstube, neben der Küche auch Kleiderkammer und Lager ebenso wie die Sozialarbeit.
Dabei hatte er immer wieder auch Gelegenheit, mit Gästen und haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Dass ein Großteil der Mitarbeiter einmal Gäste waren oder es hätten sein können, wurde Samuel Kermelk erst nach einiger Zeit so richtig klar. Beispielsweise erfuhr er erst beim gemeinsamen Kartoffelschälen mit einer Kollegin, dass sie im Frauenhaus lebt. "Ein tolles interaktives Miteinander", bescheinigt der Porsche-Mitarbeiter dem Team um Oasen-Leiter Christoph Köst. Beeindruckt zeigte er sich auch von der großen Wertschätzung, die den Gästen entgegengebracht wird. Wie sehr man sich hier für jeden Einzelnen einsetzt, wurde ihm unter anderem deutlich, als er sah, wie viele Aktenordner allein der Schriftverkehr für Ulf Weber* füllt, der erst vor kurzer Zeit Kontakt mit der "Oase" aufgenommen hat.
"Wie kann man hierzulande in Anbetracht des hohen Wohnungsleerstands und umfangreicher Sozialleistungen überhaupt obdachlos werden?", hatte sich der junge Rheinländer vor seinem Oasen- Praktikum gefragt. Gespräche mit Ulf Weber haben seinen Horizont geweitet: Der alkoholkranke Analphabet hatte schon vor längerer Zeit seinen Job verloren. Irgendwann hatte er die wachsende Flut von Mahnungen und Vorladungen in seinem Briefkasten einfach ignoriert. Ihm fehlte die innere Kraft, soviel Frust zu verkraften. Er trank immer mehr und tauchte schließlich ab.
"Wenn jemand nach solchen Erfahrungen gar nicht mehr an sich glaubt und sich ganz unten fühlt, kommt es hin und wieder auch vor, dass er in die Oase kommt und andere Gäste oder Mitarbeiter provoziert", erzählt Christoph Köst. Gäste, die handgreiflich wurden oder ausgerastet sind, hat der "Seitenwechsler" während seines fünftägigen Einsatzes nicht erlebt. Gäste, die verbal Dampf ablassen wollten, fand er mitunter aber durchaus provokant. Beispielsweise schimpfte ein Gast im Gespräch mit ihm heftig über die Einstellungspolitik von Porsche. Kermelk, der sich für sein Unternehmen nicht zuletzt wegen des hohen Stellenwerts entschieden hatte, die den Mitarbeitern eingeräumt wird, fühlte sich genötigt, seinen Arbeitgeber in Schutz zu nehmen. Neid oder Missgunst hat er während seines Praktikums nie erlebt.
"Ich werde diese Tage nicht vergessen", ist sich der Nachwuchsmanager sicher. Die Oasen-Erfahrung habe ihn angeregt, über sein Verhalten gegenüber Menschen nachzudenken: "Wie schnell mache ich mir beispielsweise ein Urteil über andere?" Dass er sich in einer "Luxusgesellschaft" bewege, sei ihm schon vorher klar gewesen, in der Oase hätte sich die Wichtigkeit der Alltagsprobleme von Porsche-Mitarbeitern wie Zugluft am Arbeitsplatz oder zu klein empfundene Büros aber noch einmal deutlich relativiert. "Sicher muss ich die Mitarbeiter mit ihren Sorgen ernst nehmen, aber ich habe hier gelernt, dass man auch mal zu jemandem sagen darf: Jetzt stell dich nicht so an!" In der Geschäftsleitung des Leipziger Porsche-Werks wird das Projekt "Seitenwechsel" wichtig genommen. Es soll fest in die Ausbildung angehender Manager integriert werden. Bereits im vergangenen Monat hatte ein junger Porsche-Mitarbeiter eine Woche in der Oase verbracht. Im Gegenzug besuchten Mitarbeiter der Oase einen Tag lang das Porsche-Werk. "Das Projekt dient dazu, unseren Nachwuchsführungskräften die gesellschaftspolitische Verantwortung gegenüber der Region und den Menschen vor Augen zu führen", erklärt Personalleiter Lars Reese, der Samuel Kermelk während seines Einsatzes in der Oase besucht hat. Als Projektorte hat er neben der Oase auch die Leipziger Justizvollzugsanstalt, ein Altenheim und einen Kindergarten für behinderte Kinder ausgewählt. "Die Mitarbeit in einer karitativen oder sozialen Einrichtung soll die Bereitschaft fördern, soziale Verantwortung zu übernehmen," sagt Reese. (*Name geändert)
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 19.09.2007