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Aus der Region

Ost-West-Erfahrungen

Kapläne aus Thüringen und Westfalen tauschten für drei Jahre ihre Stellen - Jetzt ziehen sie Bilanz

Vor drei Jahren tauschten Michael Neudert aus dem Bistum Erfurt und Johannes Arntz aus dem Bistum Münster ihre Kaplansstellen. Jetzt kehren sie wieder in ihre Heimatdiözesen zurück - um viele Erfahrungen reicher, über die die beiden hier berichten:.

Johannes Arntz im Interview:

Gemeinschaftssinn ist im Osten größer

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Frage: Herr Kaplan Arntz, nach drei Jahren im Bistum Erfurt kehren Sie wieder in Ihre Heimat zurück - mit welchen Gefühlen?
Arntz: Als ich kam, war für mich klar: Nach drei Jahren gehst du wieder zurück. Ich hätte mir nie vorstellen können, daß mir das so schwer fallen würde. Es sind wichtige Beziehungen gewachsen. Als ich hierher kam, hatte ich schon Ängste, wie ich als Westdeutscher ankommen würde. Aber die Befürchtungen haben sich nicht bestätigt. Ich habe mir gegenüber nie einen Vorbehalt gespürt: Jetzt kriegen wir auch noch einen Kaplan aus dem Westen.

Frage: Wie haben Sie den Umbruch der vergangenen Jahre miterlebt?
Arntz: Was mich total überrascht hat, ist - obwohl ich vor und nach 1989 viel in Ostdeutschland gewesen bin - wie sehr die Wende alles verändert hat. Das hat man in Westdeutschland so nicht mitbekommen. Viele sind inzwischen einmal umgezogen oder haben eine andere Arbeitsstelle. Die Schulen wurden umgekrempelt und das Krankenkassensystem. Welche Unsicherheit das verursacht hat, habe ich nicht für möglich gehalten. Aber nicht nur das, ich habe auch Menschen kennengelernt, die heute voller Haß auf die Wende sind, wie eine Frau, die in der DDR Kaderleiterin war und die durch die Wende ganz tief gefallen ist.

Frage: Kapläne haben viel mit jungen Menschen zu tun. Gibt es Unterschiede zwischen ostdeutschen und westdeutschen Kindern und Jugendlichen?
Arntz: Ostdeutsche Jugendliche identifizieren sich mit Kirche, wie ich es so in Oelde nicht oft erlebt habe. Beispielsweise ist der Besuch des Sonntagsgottesdientes hier selbstverständlich. In Oelde hatte ich viele Jugendliche, die mitgemacht haben, die nett und freundlich waren und Ideen hatten und für alles Mögliche ansprechbar waren. Aber den Sonntagsgottesdienst sahen sie durchaus liberaler. Allerdings ist die Vermittlung religiöser Inhalte - beispielsweise der kirchlichen Sexualmoral - genauso schwierig wie im Westen.
Ein zweiter Unterschied: Ostdeutsche Kinder und Jugendliche sind gemeinschaftsfähiger als ihre Altersgenossen im Westen. Ich habe wesentlich weniger Schwierigkeiten mit Gruppen gehabt. Das liegt vor allem daran, daß ostdeutsche Jugendliche bereit sind, sich auf etwas einzulassen und dann erst zu bewerten. Im Westen wird erst diskutiert. Dann fühlt sich irgend jemand nicht in der Lage mitzumachen, und klinkt sich aus.

Frage: Ist das nicht eher ein Zeichen dafür, daß Ostdeutsche alles unkritisch hinnehmen?
Arntz: Auch wenn man das als Anpassung auslegen könnte, hatte ich nicht den Eindruck, daß die Kinder unkritischer sind. Im Westen gibt es Tendenzen, das Individuum so hochzuhängen, daß Gruppenfähigkeit immer schwieriger wird. Allerdings habe ich - was die ostdeutschen Jugendlichen betrifft - Befürchtungen für die Zukunft.

Frage: Stichwort Gemeindearbeit: Kann der Osten hier etwas vom Westen lernen?
Arntz: Zumindest in größeren Gemeinden muß es gute pastorale Strukturen geben, um mehr Freiraum zu schaffen und neue Anliegen angehen zu können. Die Pfarrgemeinderäte müssen stärker an Entscheidungen in den Gemeinden beteiligt und dann auch verantwortlich dafür gemacht werden. Die Selbständigkeit könnte hier größer sein. Aber westdeutsche Katholiken könnten auch etwas vom Osten lernen: die Identifikation mit der Kirche.

Frage: Im Bistum Münster gibt es viele Verbände, Bildungshäuser, Krankenhäuser... Hat Ihnen bei den sehr bescheidenen ostdeutschen Strukturen etwas gefehlt?
Arntz: Nein. Es gibt in Eisenach die Caritas-Beratungsstelle, ein Krankenhaus, das Altenheim. Ich denke, mehr wäre nicht ehrlich. Ich habe Vorbehalte gegen den Verbandkatholizismus, weil ich oft die Erfahrung mache, daß der Verein wichtiger wird als die Gemeinde. Der Verbandskatholizismus bindet auch unheimlich viel Kraft des Gemeindepfarrers. Dort ist er Präses und dort muß er einen Vortrag halten und der Terminkalender ist voll. Die verbindende Größe muß die Gemeinde sein.
Eisenach zeigt, daß das auch geht: Als 1994 viele Leute in den Vorruhestand gingen, haben wir in der Pfarrei einen Bonifatiuskreis gegründet, 30 oder 35 Leute machten sofort mit. Da gab es ein eigenes Programm und eigene Treffen, aber in ganz enger Verbindung zur Pfarrei. Und Besucher aus Westdeutschland haben mir oft gesagt: In der Gemeinde spürt man noch einen ganz anderen Zusammenhalt.

Frage: Was halten Sie von der Diskussion um den Religionsunterricht?
Arntz: Der von der Gemeinde verantwortete Religionsunterricht ist gut. Ob der staatlich verordnete Unterricht gut ist, ist eine andere Sache. In Eisenach findet der Unterricht in der Gemeinde statt. Als Vorteile erscheinen mir vor allem der Kontakt zwischen Kindern und Gemeinde innerhalb der Woche, oder die Möglichkeit, mit einem Gebet in der Kirche anzufangen, oder im Religionsunterricht zu besprechen, was die Gemeinde angeht. So kann sich durch den Religionsunterricht eine Gemeindegruppe bilden, was in der Vereinzelung in der Schule nicht möglich ist. Auch die oft angeführte Chance, nichtchristliche oder außenstehende Kinder durch die Schule zu erreichen, halte ich für gering. Das ist in einer Gemeinde eher möglich.
Interview: Eckhard Pohl.

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Michael Neudert im Interview: Es bleiben auch Fragen offen

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Frage: Wie kamen Sie auf die Idee des Arbeitsplatz-Tauschs?
Neudert: Da muß ich ehrlich sein: Es war nicht meine Idee. Der Wechsel war zunächst ein Wunsch meines Vorgängers in Oelde. Kaplan Arntz kam auf die Idee. Ich habe mitgemacht und war gern bereit, Erfahrungen im Bistum Münster zu sammeln.

Frage: Was hat Sie in Oelde am meisten überrascht?
Neudert: Beeindruckt war ich von der offenherzigen Aufnahme in der Gemeinde. Das ging alles ganz schnell und unkompliziert. Sicherlich kann man als Begründung dafür zunächst meinen Beruf anführen, denn Priester leben zum Glück aus einem gewissen Vorschuß an Vertrauen - hier wie dort. Doch auch persönlich kann ich froh auf meine ersten Gehversuche West zurückblicken. Wirklich überrascht hat mich die organisatorische Struktur der Kirche im Bistum Münster, die große Zahl der Hauptamtlichen und die Unzahl von kirchlichen Einrichtungen. Manches habe ich bis heute nicht richtig kapiert.

Frage: Welche Ideen haben Sie aus Thüringen in Westfalen eingeführt?
Neudert: Als ich nach Oelde kam, war ich erst seit zwei Jahren Kaplan im thüringischen Eisenach. Dort und in meiner Heimatgemeinde haben wir weit weniger aus Seelsorge#Planungen gelebt, eher aus einer gewissen Gunst der Stunde und dem persönlichen Engagement einzelner Christen. Vielleicht blieb mir daher auch Gelassenheit gegenüber den sich scheinbar zuungunsten der Kirche verändernden Wirklichkeiten. Zahlen und Statistiken haben nicht die Kraft, mich wirklich zu beeindrucken.
Grundlegend "eingeführt" habe ich sicher in Oelde wenig. Ich habe meine Erfahrungen möglichst transparent werden lassen, meinen Glauben mitgebracht und mich versucht einzubringen. Schließlich habe ich glücklicherweise in Oelde eine in jeder Hinsicht gut bedachte Seelsorge vorgefunden, die in vielen Aspekten Modellcharakter haben könnte.

Frage: Welche praktischen Anregungen nehmen Sie mit ins Bistum Erfurt?
Neudert: Da ließe sich eine Menge aufzählen. Beginnen möchte ich mit den Gottesdiensten, deren Vorbereitung und Feier sehr intensiv sind. Abgesehen von wenigen Mißgriffen, sind alle Gottesdienste sowohl durch den Einsatz von Medien, durch ihre Sprache und die zugrunde liegenden liturgischen Gedanken ansprechende Feiern des Glaubens gewesen. Da nehme ich schon Ideen mit hinsichtlich neuer Texte, der Gebetssprache oder des Engagements von Christen bei der gottesdienstlichen Feier.
Daneben habe ich einen Zyklus in der Sakramentskatechese kennengelernt, der in seiner Verwirklichung sehr anregend war. Der Gemeindebezug wurde durch diese Form der Glaubensunterweisung nicht irgendwann abgeschlossen, sondern ließ immer wieder Chancen für Eltern und Kinder, Christsein neu zu entdecken. Auch beim sozial#karitativen Einsatz oder in der Frage des Einsatzes in der Dritten Welt habe ich gute Wege kennengelernt. Doch es bleiben auch Fragen offen: Der Religionsunterricht in der Schule, die Schulgottesdienste und Formen der kooperativen Seelsorge haben zwar unterschiedliche Erfahrungen ermöglicht, gute Lösungen kann ich aber noch nicht mitnehmen.
Interview: Walter Keßler.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 31 des 46. Jahrgangs (im Jahr 1996).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 04.08.1996

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