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Das muss sich erst einmal setzen

Bischof Müller gewann auf seiner Adveniat-Reise nach Guatemala wichtige Eindrücke

Bischof Müller in der Gemeinde Santo Tomaso Görlitz - Im Görlitzer Ordinariat steht neuerdings ein Götze auf einem Beistelltisch im Büro von Bischof Rudolf Müller. Die kleine Figur aus gebranntem Lehm hält eine Mondsichel in der Hand. Müller vermutet deshalb, dass es sich um eine Personifikation dieses Planeten handelt. Eine einfache Mayafrau hat sie dem Bischof am Ende seines Guatemala-Aufenthalts geschenkt. Anderthalb Wochen verbrachte Müller in dem mittelamerikanischen Staat.
Die Fahrt hatte das Bischöfliche Hilfswerk Adveniat anlässlich seines 40-jährigen Bestehens gemeinsam mit der Bonner Gesellschaft zur Förderung des Nord-Süd-Dialogs organisiert. Insgesamt 16 deutsche Teilnehmer - Bischöfe, Priester, eine Ordensfrau und kirchliche Mitarbeiter - sollten dort beispielhaft Familien und Pfarrgemeinden kennen lernen und Anregungen für ihre pastorale Arbeit mit nach Hause nehmen. "Diese Zeit hat uns alle dermaßen erfüllt", sagt Bischof Müller im Nachhinein. "Das muss sich erst einmal setzen, wie Wasser in einem Teich." Drei Tage lebte der Görlitzer Oberhirte bei einer katholischen Familie in Chiché. Der Familienvater ist Lkw-Fahrer. Seine Frau führt für ihn und die vier Kinder den Haushalt. Chiché ist etwa so groß wie Niesky. Es liegt im Landesinneren von Guatemala, eingebettet in Hügel und Berge. Die Indios bauen dort vor allem Mais und Kartoffeln an. In dem Zimmer, das Bischof Müller bei seiner Gastfamilie bewohnte, standen eine Bettpritsche und ein kleiner Tisch. Dennoch war Müller komfortabler untergebracht als die anderen im Haus: Sein Schlafraum hatte als einziger einen festen Estrich. Sonst bestand der Fußboden überall nur aus festgestampftem Lehm.
Etwas aber befand sich auch in Müllers Zimmer, was typisch ist für die Wohnräume der indianischen Bevölkerung: eine Art heilige Ecke - "wir würden bei uns ,Herrgottswinkel' sagen", erläutert der Bischof. Auf einem Tisch mit Tischtuch waren mehrere Heiligenfiguren aufgestellt, außerdem eine dicke Kerze, die Tag und Nacht brannte, sowie eine Glaskaraffe mit Wasser.

Außer den religiösen Statuen und Symbolen standen auf dem kleinen Hausaltar in Bischof Müllers Zimmer auch vier Holznäpfe, gefüllt mit Mais in unterschiedlichen Farben. Die Anordnung zeigt, wie eng für die Indios in Guatemala Glaube und Alltag beieinander liegen. Die Kirche sei so stark in das Leben der Menschen hineingewachsen, dass er beinahe hätte neidisch werden können, sagt Müller.

Sehr deutlich spürte er diese Zusammengehörigkeit während eines Bibelnachmittags, an dem er zusammen mit seinen Gastgebern teilnahm. Das Haus, in dem das Treffen stattfinden sollte, lag an einem Berghang etwas außerhalb von Chiché. Bevor die Unterweisung begann, wurden die wenigen Möbel, die sich in dem Gebäude befanden hinausgeräumt. Nur der heilige Tisch blieb stehen. Zu Beginn forderte eine Katechetin die Teilnehmer auf, von dem zu erzählen, was sie in den vergangenen Tagen erlebt hatten. Anschließend brachten sie das Gesagte schweigend vor Gott. "Da merkte ich", sagt Bischof Müller", wie in diese kleine Versammlung das ganze Leben mit einbezogen wurde." Dann las eine Frau eine Stelle aus dem Alten Testament vor. Ein Mann hielt eine Art Predigt darüber. Danach fassten die Zuhörer Vorsätze für die kommende Woche, etwa: "Ich werde unten an den See gehen, einige junge Pflanzen ausgraben und sie bei uns im Dorf einpflanzen, damit es dort zu keiner Erosion kommt." Auch zur Vorbereitung einer solchen Katechese, wie sie einmal wöchentlich abgehalten wird, gehören ähnlich praktische Schritte, beispielsweise Hausbesuche.

Nicht nur bekennen und handeln gehören für die Indios zusammen. Auch innerhalb ihrer religiösen Praxis verbinden sich zwei Traditionen: die indianische und die christliche. So erinnert der Weihrauch, den sie häufig als Symbol für die zu Gott aufsteigenden Gebete verwenden, an die früheren Brandopfer der Mayas.

Müller kennt eine ähnliche Verschmelzung zweier Kulturen aus seinem eigenen Bistum: Wenn sorbische Taufpaten mit den Altarglocken läuteten, damit das Kind musikalisch werde, wie es heißt, sei das ein Überbleibsel heidnischer Geistervertreibung. Noch eine weitere Parallele zieht Müller zwischen den Sorben und den Mayas: Erstere seien in der Nazizeit verfolgt worden. Letztere hätten sehr stark unter dem 36 Jahre dauernden Bürgerkrieg in Guatemala gelitten. Viele Katecheten seien ermordet worden, weil sie verdächtigt wurden, mit den linksgerichteten Guerillas in Verbindung zu stehen.

Nach dem Friedensschluss 1996 leistete die Kirche einen wichtigen Beitrag zur Versöhnung der verfeindeten Parteien: Die Mayas betrachten ihre Verstorbenen weiterhin als Familienmitglieder. Das zeigt sich darin, dass sie ihnen immer wieder Speisen ins Grab legen. Bei den Toten des Bürgerkriegs war das nicht möglich, weil sie in Massengräbern verscharrt wurden.

Die Kirche setzte sich für die Angehörigen ein: Allein am 29. Juli dieses Jahres konnten sie in ihren Dörfern rund 120 Bürgerkriegsopfer bestatten. "Das ist eine pastorale Leistung der Kirche, wie man sie sich gar nicht vorstellen kann", freut sich Bischof Müller. "Hier fühlen sich die Mayas von der Kirche ernst genommen. Begeistert ist er auch von den Laienmitarbeitern in den Gemeinden.

Karin Hammermaier

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 35 des 51. Jahrgangs (im Jahr 2001).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 31.08.2001

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