Zu Lasten der Armen
Caritasdirektor Brozek über aktuelle Entwicklungen
Die Anfänge der Caritasarbeit im Bistum Magdeburg liegen dieser Tage 50 Jahre zurück (Seite 17). Caritasdirektor Günther Brozek im Interview mit unserer Zeitung über die Herausforderungen des Verbandes:
Frage: Was hat sich seit der Wende für die Arbeit des Caritasverbands geändert?
Brozek: Zunächst ist die Arbeit geblieben. Sie hat sich etwas verlagert zugunsten der Menschen in besonderen materiellen Notlagen: Obdachlose, Aussiedler, Asylanten. Insgesamt sind wir unserer Aufgabe treu geblieben: Unsere Türen zu öffnen für Menschen, die in seelische oder soziale Not geraten sind. Anders ist heute die gesamte Gesetzeslage. Wir können auf staatliche Fördermittel zurückgreifen. Ein Stiefkind dabei ist die allgemeine soziale Beratung geblieben. Dafür gibt es auch heute kein Geld.
Frage: Sparpakete sind heute in aller Mund: Wieweit betrifft das die Caritas?
Brozek: Wir werden davon betroffen werden, denn die Not wird erst dann sichtbar, wenn Reserven erschöpft sind. Wenn ein Land viel spart, wirkt sich das natürlich bei den Menschen aus. Dann werden wir wieder gefragt sein. Wir haben die Sorge, daß durch die Sparmaßnahmen viele soziale Dinge nicht mehr möglich sein werden. Schon jetzt gibt es Probleme mit der Einstufung der Bewohner unserer Altenpflegeheime durch die Pflegeversicherung. Wir hatten uns eigentlich von der Pflegeversicherung anderes erhofft: Nämlich daß Menschen nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sind, und wir durch die Pflegeversicherung in den Heimen ganz anders unseren Dienst leisten können. Das hat sich leider nicht erfüllt.
Frage: Die Pflegeversicherung war also ein Flop?
Brozek: Ich möchte das nicht als Flop bezeichnen, denn die Pflegeversicherung ist wichtig und war dringend notwendig. Aber der Umgang hat uns mächtig enttäuscht: Wir durften mit staatlicher Förderung neue Altenpflegeheime bauen. Jetzt stehen sie - mit ihren wunderschönen Räumen, Betreuungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten - halbleer, weil nur sehr wenige in den Genuß kommen, hier eingewiesen zu werden.
Frage: Wo haben Sie die meiste Sorge für die Zukunft?
Brozek: Ich habe große Angst vor der sozialen Schere. Sie wird künftig weiter auseinandergehen. Die Reichen werden reicher werden, die Armen ärmer. Die Sparmaßnahmen werden den kleinen Mann auf der Straße treffen. Und die Großen bleiben auf ihrem Geld sitzen. Ich habe Angst, daß soziale Unruhen entstehen, weil der kleine Mann wieder der dumme ist. Es kann und darf nicht sein, daß in unserem Land so einseitig zu Lasten des kleinen Mannes gespart wird. Wir als Wohlfahrtsverbände und die Sozialkassen werden die Lasten tragen müssen. Die Armut wird schlimmer sein, als wir es erwarten, wenn alle Sparmaßnahmen so greifen, wie sie jetzt überlegt werden.
Interview: Stephan Radig.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.09.1996