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Aus der Region

"Niemand ist ihrem Herzen fremd ..."

Fokolar-Bewegung

Zu 80 Prozent gehört die Bevölkerung der neuen Bundesländer keiner Kirche an. "Leben wir Christen nicht oft so, als gäbe es diese Mehrheit gar nicht?" fragte sich vor kurzem eine Gruppe von Priestern der Fokolar-Bewegung. Ende September luden sie kirchliche Mitarbeiter aus der evangelischen und katholischen Kirche zu einem Erfahrungsaustausch über den "Dialog mit Nichtchristen" ein.

"Wenn ich die Hemmschwelle überwunden habe und mit Menschen anderer Weltanschauungen den Dialog gesucht habe, war das sehr oft eine große, persönliche Bereicherung" erzählt der Wittenberger Pfarrer Dr. Paul Christian. Eines dieser Erlebnisse liegt erst wenige Monate zurück: Mit zwei Büchern von Werner Heiduczek in der Tasche besuchte er gemeinsam mit einer Mitarbeiterin den ostdeutschen Dichter in seinem Waldhaus.

Das Kinderbuch "Der kleine häßliche Vogel" hatte Pfarrer Christian schon vor vielen Jahren tief angerührt. Die Sonne, die den kleinen, häßlichen Vogel der Kindererzählung bescheint, hatte er immer als Sinnbild der Liebe Gottes verstanden, die allen Geschöpfen Lebenskraft verleiht und keine Unterschiede macht zwischen hübschen und häßlichen.

Wie ist der Autor zu dieser Geschichte gekommen und wie deutet er selbst seinen Text, wollte er wissen. Zu seiner Überraschung verband Werner Heidu-czek selbst ganz anderes mit seiner bebilderten Kindergeschichte und auch mit der Erzählung "Das verschenkte Weinen", die Paul Christian ebenfalls aus der Tasche zog: Eine Frau, die ihr Weinen verschenkt, um dadurch das Augenlicht für ihren Liebsten zu gewinnen, wird danach zum unberechenbaren Monster.

Werner Heiduczek und seine Frau sprachen mit ihren Besuchern über die existentielle Bedeutung, die das Leid im Leben des Menschen hat, für Christen ebenso wie für Nichtchristen. Der Dichter glaubt nicht an Gott. Er hatte in die Geschichte vom verschenkten Weinen eigene Erfahrungen aus der DDR-Zeit verarbeitet. Eine zeitlang waren alle negativen, traurigen und kritischen Passagen seiner Texte der Zensur zum Opfer gefallen. Er brachte seine Freude zum Ausdruck, daß seine Erzählungen auch für das Leben eines Christen zentrale Bedeutung hatten.

"Ein solcher Dialog ist ein Geschenk. So etwas kann man nicht übers Knie brechen", sagt der Wittenberger Pfarrer. "Was erwarten wir uns überhaupt vom Dialog mit Nichtchristen?" fragten sich die ost- und westdeutschen Teilnehmer der Erfurter Tagung in Gesprächskreisen, zu denen sie sich nach ihren Lebensumfeldern zusammengefunden hatten: Krankenhaus, Schule, unter Jugendlichen, in den Medien, bei Trauerfeiern, im Sozialbereich, im Freundeskreis, in Literatur und Kunst.

"Denken wir wirklich an Dialog oder wollen wir eher missionieren?" fragte ein evangelischer Pastor. "Oftmals sind wir so enttäuscht, daß wir nicht mehr Menschen zur Taufe bringen, daß wir gar nicht wahrnehmen, wie bereichernd gute Dialoge mit Nichtchristen sein können. Für Beate Beckmann, Theologin aus Dresden, gehört der Dialog mit Andersdenkenden wesentlich zu ihrem Christsein hinzu: "Wir Christen erkennen unsere eigene Position oftmals erst richtig im Dialog mit den anderen..

Viele Diskussionsanstöße gab der Beitrag des Leipziger Chinesisch-Dozenten Dr. Manfred Reichardt, der als Gast an dem Begegnungstag für kirchliche Mitarbeiter teilnahm. Der Sozialist pflegt mit vielen Christen seit langen Jahren Freundschaften. Er erzählte, was ihm der geistige Austausch mit Christen bedeutet: "Dialog mit Christen" hat er eigentlich nie gesucht, sagte der 64jährige. Es habe sich vielmehr spontan ergeben, daß er Christen kennenlernte und mit ihnen über seine Ideale und Hoffnungen sprach. Seine eigene Weltsicht sei - auch durch das Erleben der Bombenangriffe auf Leipzig geprägt - pessimistisch: "Ich habe den Eindruck, daß die Welt im Laufe ihrer jahrtausendealten Geschichte kaum vorangekommen ist. Sie ist nach wir vor ungerecht und inhuman. Geschichte wird im Interesse der Mächtigen gemacht..

An seinen christlichen Freunden schätzt er die "hohe moralische Integrität und den Versuch, das, was sie glauben zu leben". Ihn verbindet mit ihnen "die Hoffnung auf eine idealere Welt". Bei einem Besuch einer Modellsiedlung der Fokolarbewegung in der Nähe von Florenz, zu dem er nach der Wende eingeladen wurde, sah er seine Träume vom solidarischem Zusammenleben der Menschen verwirklicht. "Aber leider eben nur gewissermaßen in der Nußschale", bedauert er. Er habe nach wie vor große Zweifel, ob Menschen in der Lage seien, ein solidarisches und gerechtes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem auch im Großen aufzubauen.

Politisch oftmals diametral entgegengesetzte Überzeugungen seien bei seinen Gesprächen mit christlichen Freunden nie ein unüberwindliches Hindernis gewesen, erzählt Manfred Reichardt. Grundlage dafür sei Vertrauen, Ehrlichkeit und gegenseitiger Respekt gewesen. Christen sollten seiner Ansicht nach akzeptieren, daß Ethik und Moral auch aus anderen Quellen gespeist werden können als den ihnen bekannten. Wenn sie in eine Haltung der geistigen Überlegenheit verfielen, mache das die Diskussion schwierig. Die historisch gewachsenen Barrieren, die es zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen Christen und Marxisten gebe, sollte man auf keinen Fall vom Tisch wischen. Allerdings dürften sie auch nicht überbewertet werden, meint der Chinesisch-Dozent.

Er hält es für wichtig, daß Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen in erster Linie nach dem Verbindenden suchen. Dabei müßte man sich mitunter auch von "amtlichen Bindungen" freimachen. Das gelte für kirchliche Amtsträger, aber auch für ihn selbst. Zu DDR-Zeiten sei er sich durchaus bewußt gewesen, daß seine Freundschaft mit Christen nicht der offiziellen Linie seiner Partei entsprach. Vor der Entscheidung, selbst Christ zu werden, hat Manfred Reichardt ernsthaft nie gestanden, obwohl er nach eigenen Worten "tiefe Hochachtung vor dem Angebot der Religion" hat. "Kirche und Götter" hätten in seinem Denken nie "Überzeugungskraft gewinnen" können, stellt er fest.

Er sei getauft und konfirmiert worden, ohne daß das eine Bedeutung für sein Leben gehabt hätte. Das Elternhaus, in dem er aufwuchs, war religiös indifferent: "Mein Vater wußte von Religion nur, was er im Religionsunterricht in der Volksschule gelernt hatte, und das war katastrophal. Meine Mutter war ein pragmatischer Mensch. Wenn die Not am größten ist, kann man schon einmal beten, war ihre Auffassung. Sie riet mir, Pastor zu werden, am besten auf dem Lande. Ein bequemeres Leben konnte sie sich nicht vorstellen..

Die Sehnsucht nach Gesprächen über existentielle Fragen teile er mit vielen anderen Nichtchristen, sagte Manfred Reichardt. Er bedauere, daß sie so selten zustande kommen.

Pfarrer Paul Christian hat die meisten guten Gespräche mit Vertretern anderer Weltanschauungen in Eisenbahnabteilen und im eigenen Auto mit Trampern geführt. Häufig beginnen diese Gespräche mit einem gegenseitigen Beruferaten. Christian bemüht sich, sich so weit es geht auf dem laufenden zu halten über Themen, die gerade in der öffentlichen Diskussion sind. In Wittenberg laufe beispielsweise gerade ein Kinofilm über Außerirdische, der die Diskussion über dieses Thema angeheizt hat.

Bei Aktivitäten seiner Gemeinde versucht Pfarrer Christian, nach Möglichkeit Nichtchristen mit einzubeziehen. Die Rußland-Hilfstransporte der Gemeinde von Sandersdorf , wo er bis vor kurzem noch Pfarrer war, würden zum Beispiel zu gleichen Teilen von Christen und Nichtchristen getragen.

Als er die Hilfstransporte in orthodoxe Gemeinden initiierte, sei es sein Hauptanliegen gewesen, mit den Nichtchristen seines Pfarrgebietes in Kontakt zu kommen, erinnert sich Paul Christian. Viele, die früher die Kirchenschwelle nicht überschritten hätten, freuten sich nun über die Möglichkeit, sich in Gemeinschaft sozial zu engagieren.
Seit der Wende hat der Dialog mit Nichtchristen für den Priester eine neue Komponente bekommen. Ihm ist es wichtig geworden, Menschen zu begleiten, die alle Werte, auf die sich ihr bisheriges Leben gründete, verloren glauben. Er selbst ist überzeugt davon, daß viele Werte, die im sozialistischen System vertreten wurden, durchaus dauerhafte Gültigkeit besitzen. "Mir ist klar, daß viele Christen das nicht hören wollen," räumt er ein. Er nutzt dennoch jede Gelegenheit, Menschen darin zu bestärken, sich weiterhin für Arme und Schwache einzusetzen.

Pfarrer Johannes Aßmann, der als Rentner in der Wittenberger Gemeinde lebt, teilt sein Anliegen. Sehr bewußt hat der 87jährige den einschneidenden Wandel miterlebt, den die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils gebracht hat. Was damals über den Dialog der Kirche mit der Welt gesagt und geschrieben wurde, veränderte auch seine persönliche Sicht auf die Menschen. Zuvor war er stark geprägt von der Konfrontation mit Nationalsozialisten und Kommunisten. In der Konzilszeit richtete sich sein Blick in stärkerem Maße auf den Wert jedes Menschen als Person, auf die Notwendigkeit des Einsatzes für Frieden und Einigung. Seither fühlt er sich immer wieder beschämt, mit welchem Einsatz manche Atheisten sich für Werte wie Naturschutz und Frieden einsetzen. Wenn solcher Einsatz doch mehr unter uns Christen zu finden wäre!" wünscht er sich manchmal.

Bei der Erfurter Tagung ist ihm aufgefallen, daß Christen in den alten Bundesländern bei den Dialogversuchen mit Nichtchristen andere Erfahrungen machen als er selbst. "Feindseligkeiten gegenüber der Kirche gibt es bei uns nicht in dem Maße wie im Westen", sagt er. Die Fremdheit zwischen Christen und Andersdenkenden sei dafür in den neuen Bundesländern größer. Der Begegnungstag in Erfurt sei nicht nur Erfahrungsaustausch, sondern in erster Linie Ermutigung gewesen, auf Andersdenkende zuzugehen.

Dorothee Wanzek

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 41 des 46. Jahrgangs (im Jahr 1996).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 13.10.1996

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