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Aus der Region

Mit dem Evangelium das Leben menschlicher gestalten

Professor Feiereis im Interview

"Christen sollten wie Sauerteig sein, der die Gesellschaft durchdringt. Die christlichen Glaubensideale sind es wert, sich mit ihnen zu beschäftigen. Darum hat das Christentum Zukunft", sagt der Erfurter Professor Dr. Konrad Feiereis. Der Philosoph beobachtet seit 30 Jahren intensiv die gesellschaftliche Entwicklung. Der Tag des Herrn sprach mit ihm über die Situation in den neuen Ländern und über Aufgaben der Kirche.

Frage: Herr Professor, im siebenten Jahr der Einheit sind die Menschen in den neuen Ländern im Vergleich zu DDR-Zeiten nicht christlicher geworden, wie sich mancher erträumt hatte. Wo liegen Gründe dafür?
Antwort: Für die Entchristlichung unserer Gesellschaft gibt es verschiedenartige Ursachen. Kommunistische Erzieher haben vier Jahrzehnte lang Kindern und Jugendlichen eingeredet, die Nichtexistenz Gottes sei wissenschaftlich bewiesen. Sie haben Religion mit Aberglauben gleichgesetzt. Viele unserer Mitbürger haben dadurch eine verzerrte Gottesvorstellung eingepflanzt bekommen. Die Kirche und ihre Geschichte wurde so dargestellt, als habe sie stets an der Seite feudaler und kapitalistischer Systeme gestanden, also Unrecht und Ausbeutung gerechtfertigt. Die Nachwirkungen dieser Erziehung zum Kommunismus werden uns noch für Jahrzehnte beschäftigen. Auf Grund ihrer Lebenserfahrungen sind viele Menschen mißtrauisch und hegen prinzipiell den Verdacht, sie könnten von Politik, Parteien, Verbänden, ja nicht zuletzt auch von den Kirchen vereinnahmt und instrumentalisiert werden. Die alten Wunden sitzen sehr tief.

Frage: Was kann die Kirche tun, diese Wunden heilen zu helfen?
Antwort: Wir Christen stehen vor der großen Aufgabe, die Glaubwürdigkeit der Kirche zu stärken. Und Außenstehenden die Erfahrung zu vermitteln, daß es Kirche nur deshalb gibt, weil sie für die Menschen dasein und ihre Wege mitgehen will. Ich glaube, wir könnten manche Barrieren abbauen, wenn Kirche als Ort der Freiheit und der Befreiung von Knechtschaft aller Art erlebt würde. Wir sind doch zur Freiheit der Kinder Gottes berufen! Diese unsere Erfahrung aus der Zeit der totalitären Diktatur gilt es zu bewahren und weiterzugeben. Manchem unserer Mitbürger wird immer stärker bewußt, daß Freiheit nicht Bindungslosigkeit bedeuten kann. Sie werden die Kirchen wieder suchen, wenn sie sie als Ort des Dialogs erkennen, an dem auch Kritik als Zeichen des Suchens willkommen ist. Christentum und Kirche dürfen nicht "zentralistisch verwaltet" werden. Stattdessen muß Glaube in der Begegnung mit Christus und in der Gemeinschaft der Christen erfahrbar gemacht werden.

Frage: Wo sehen Sie Anknüpfungspunkte für die Verkündigung?
Antwort: Wer im Bereich von Bildung und Erziehung tätig ist, wird sich darum bemühen, junge Menschen zu eigenständigem Denken, zu Kritik- und Urteilsfähigkeit zu führen: Wie viele Angebote unterschiedlichster Art stürzen auf jeden von uns ein, die unser Leben in eine bestimmte Richtung lenken wollen. Woher nehmen wir die Kriterien, um die für uns richtigen Entscheidungen zu treffen? Die Konsumgesellschaft redet uns pausenlos "Bedürfnisse" ein, die angeblich gestillt sein müssen, wenn das Leben gelingen soll. Um wieviel schwieriger ist es für viele unserer Menschen, zwischen den Angeboten zu unterscheiden, die an Weltanschauung und Moralvorstellungen, an unser Verlangen nach letztem Sinn und tiefster Geborgenheit gerichtet sind.

Frage: Wie können solche Kriterien vermittelt werden?
Antwort: Hier sind die Bildungsstätten der Kirchen unverzichtbar, nicht zuletzt die von ihnen getragenen Schulen. Wenn der Wunsch nichtchristlicher Eltern wächst, ihre Kinder in diese Schulen zu geben, dann ist das doch ein ermutigendes Zeichen für wachsendes Vertrauen gegenüber den Kirchen, ihrem Menschenbild und Bildungsziel. Kann unsere Gesellschaft Zukunft haben, wenn uns das kulturelle Erbe unserer abendländischen Zivilisation gleichgültig wird? Kann jemand eine wirkliche Heimat haben, wenn er kein Verhältnis zu seiner geschichtlichen Herkunft besitzt? Zur Geschichte unserer Gesellschaft gehört das Christentum unablösbar hinzu. Das gesamte Geistesleben ist vom Christentum - auch durch die Auseinandersetzung mit ihm - geprägt. Eine Abkehr von ihm würde das Fundament, auf welchem die Bundesrepublik steht, gefährden und wohl auch zerstören. Niemand soll uns einreden, Wirtschaftsinteressen und Konsum könnten ein Volk oder Europa auf die Dauer zusammenhalten. Über diese Zusammenhänge gilt es gemeinsam mit Nichtchristen nachzudenken. Die Bildungsarbeit der Kirchen darf daher keinesfalls dem Rotstift zum Opfer fallen.

Frage: Aber im Westen, wo umfassende Bildung seit 50 Jahren möglich war, ist die Lage nicht viel besser ...
Antwort: Teilweise mag das zutreffen. Doch ist in den alten Ländern der Zugang zum Verständnis christlicher Kultur nie von Staats wegen verhindert worden. Literatur wie die Dostojewskis oder Thomas Manns bleibt nicht unverständlich, weil sie das christliche Verständnis von Schuld und Sühne oder biblische Erzählungen thematisiert. Wer das Bildungsangebot im Westen wahrgenommen hat, benötigt keine Einführung in das "Agnus Dei" einer von Mozart komponierten Messe. Hierin sehe ich einen entscheidenden Unterschied zwischen uns Deutschen, der das geistige Zusammenwachsen noch lange erschweren wird. Um sich nicht der Konsumgesellschaft auszuliefern, ist es unverzichtbar, sich auf diese, unsere vom Christentum entscheidend geprägte Kultur zu besinnen. Sie bleibt für unsere Selbstfindung und Selbstbestimmung unverzichtbar, in West und Ost. Das Nachdenken darüber darf nicht diffamiert werden durch das furchtbare Wort, im Osten lebten nur gottlose Menschen. Wer so spricht, sollte daran denken, was Christus über den sagt, der seinen Bruder gottlos nennt (Matthäus 5,22).

Frage: Sie haben eben Gefahren für das Zusammenleben in der Gesellschaft angedeutet ...
Antwort: Nirgends gibt es eine absolut gerechte und vollkommene Gesellschaft. Erfahrungen von Bedrohung und Ungerechtigkeit dürfen aber nicht dazu führen, daß das staatliche und wirtschaftliche System selbst und dessen ethische Grundlagen abgelehnt werden. Eine solche Gesellschaft steuert ihrem Zerfall entgegen. Die Zahl der Menschen wächst, die sich durch den Staat nicht mehr genügend an Leib, Leben und Unversehrtheit - ich erinnere an die Mißhandlung von Kindern - geschützt fühlen. Eltern erfahren sich benachteiligt, weil sie Ja zu Kindern gesagt haben. Überhaupt: Was wird aus uns, wenn eine Mentalität um sich greift, der Gemeinwohl ein Fremdwort ist und die den Staat als Selbstbedienungsladen sieht.

Frage: Ist die Politik nicht aber längst der Wirtschaft ausgeliefert?
Antwort: Diese Gefahr ist nicht zu übersehen. Gerade christliche Politiker dürfen vor der scheinbaren Unüberwindlichkeit von Sachzwängen nicht kapitulieren. Die Marktwirtschaft darf nicht so frei sein, daß sie den Vorrang vor dem Menschen beansprucht oder gar erhält. Im Osten Deutschlands wurde manche Chance vertan, Arbeitsplätze zu erhalten. Eine Marktwirtschaft, die das Attribut "sozial" immer kleiner schreibt, fördert Gleichgültigkeit gegenüber Menschen, die vor die Hunde gehen.

Frage: Was kann die Kirche in dieser Hinsicht tun?
Antwort: Sie sollte den Politikern auf der Basis ihrer Soziallehre ernsthaft ins Gewissen reden. Wir Christen erwarten ja bald ein unmißverständliches Wort beider Kirchen. Arbeit macht zwar nicht das Wesen des Menschen aus, sie gehört aber unlösbar zu seiner Natur. Darum wird das Leben von Menschen zerstört, die schon in ihrer Jugend oder in ihren besten Jahren Arbeitslosigkeit erleiden. Der Papst hat wiederholt vor der Ideologie eines schrankenlosen Kapitalismus gewarnt. Ohne die Bereitschaft zum Teilen - und wie Christus "teilen" versteht, lesen wir in Matthäus 5, 38 - 48 - gibt es keine gemeinsame Zukunft, nicht in Deutschland, nicht über seine Grenzen hinaus. Erbarmen steht für uns Christen höher als jede kalte Gerechtigkeit. Was Erbarmen bedeutet, begegnet uns in Jesus Christus. Wer im "realen Sozialismus" gelebt hat, wird sich nicht fürchten, wegen dieser Überzeugung schief angesehen oder verspottet zu werden. Als das Christentum in unsere Regionen kam, haben dessen Verkünder das Land urbar gemacht, Spitäler gebaut und Schulen errichtet. Unter anderen Bedingun-gen, aber in ähnlicher Weise können heute Christen dazu beitragen, daß unsere Gesellschaft menschlicher wird.

Frage: Aber da stehen wir doch schnell vor finanziellen Grenzen?
Antwort: Wir werden uns nicht davor drücken können, neue Prioritäten zu setzen. Krankenhäuser in kirchlicher Trägerschaft müssen das spezifisch Christliche bewahren. Wenn es dem Pflegepersonal nicht möglich ist, einem Sterbenden die Hand zu halten und mit ihm zu beten, weil die dafür aufgewendete Zeit bei der Kasse nicht abgerechnet werden kann, sollten bei uns die Alarmglocken klingeln. Hier ist zu fragen: Glaubt eine derartige Gesellschaft, die offensichtlich nur noch in den Kategorien der Apparatemedizin denkt und sich anschickt, die Quantität zur Meßlatte der Humanitas zu machen, christliche Krankenhäuser entbehren zu können? Dann müßten wir furchtlos die Anpassung verweigern und nach neuen Wegen suchen, um in einer so veränderten Gesellschaft von Christus Zeugnis zu geben, wie etwa in der Betreuung von Jugendlichen, Arbeitslosen, Behinderten, Ausländern, in der Hospizbewegung, in der Begleitung Aidskranke.

Frage: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Ökumene?
Antwort: In Ostdeutschland liegt die Zukunft des Christentums hauptsächlich in einer glaubwürdig gelebten Ökumene. Es gilt alle Anstrengungen darauf zu richten, daß die bei uns gewachsene, einzigartige ökumensiche Gemeinschaft keinen weiteren Schaden nimmt. Interview: Eckhard Poh.

Zur Person:

Konrad Feiereis ist seit 1974 Professor für Philosophie am Erfurter Philosophisch-Theologischen Studium. Als Priester und Wissenschaftler ist der Theologe immer auch Seelsorger geblieben. Gemeinsam mit dem zuständigen Pfarrer begleitet der Priester der Diözese Görlitz seit Jahren die Gemeinde in Erfurt-Gispersleben.

Den gebürtigen Glogauer (Schlesien) hat nach den Erfahrungen von Nazizeit und Krieg früh die Frage beschäftigt, was dem Leben Richtung und Halt gibt. Bis heute ist ihm die Gottesfrage und die Verantwortbarkeit des Glaubens vor der Vernunft zentrales Anliegen. Von Berufswegen hat sich Feiereis in der DDR viel mit der sozialistischen Ideologie auseinandergesetzt. So mußte er zum Beispiel für die Bischöfe das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" lesen.

Im Auftrag des Vatikans nahm er an den Dialogtreffen mit Marxisten des Ostblocks 1984 in Ljubljana und 1986 in Budapest teil. Antwort: "Die Hoffnung der Kirche richtete sich besonders seit Papst Paul VI., in dessen Auftrag der Wiener Kardinal Franz König alle Länder des Ostblocks bereiste, darauf, daß die Kirche einen größeren Freiraum für ihre Seelsorge erhielt. Mit dem Machtantritt Gorbatschows nahm diese Hoffnung Gestalt an; in der DDR nahmen die Betonköpfe die Zeichen der Zeit aber nicht zur Kenntnis ..

In der Folge von Budapest bemühten sich er und der Erfurter Pastoraltheologe Franz Georg Friemel parallel zur evangelischen Kirche erfolglos darum, in neu zu erstellenden Schulbüchern eine objektivere Darstellung von Glauben und Kirche zu erreichen. Im Raum der Kirchen diskutierte Feiereis bei ökumenischen Foren mehrfach mit marxistischen Philosophen, so etwa in Erfurt vor 500 Zuhörern mit Professor Olof Klohr, einem dialogbereiten Fachmann für Religionssoziologie.

Unermüdlich war Feiereis zu Vorträgen über Glaube und Wissenschaft, Gottesfrage und marxistische Philosophie in Jugendhäusern, Studentengemeinden und Akademikergruppen unterwegs. Engagiert nahm der Theologe an der Ökumenischen Versammlung in der DDR teil und mißt ihr eine wichtige Rolle für die politische Wende bei. Antwort: "Hier konnten auch Menschen von außerhalb des Christentums erleben, daß sich die Kirche ihrer Anliegen annimmt..

Feiereis, der von manchen seiner Studenten liebevoll "der Professor" genannt wird, ist seit Jahren Berater in Gremien der deutschen Bischöfe. Er war fünf Jahre Konsultor im Päpstlichen Rat für den Dialog mit den Nichtglaubenden. Seit Januar 1996 ist er Sprecher der AG Philosophie innerhalb der katholisch-theologischen Fakultäten der deutschsprachigen Länder. Mit Ende des Sommersemesters 1996 wurde der 65jährige emeritiert, hält aber bis sein Nachfolger ernannt ist, weiter Vorlesungen.

(ep)

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 43 des 46. Jahrgangs (im Jahr 1996).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 27.10.1996

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