Wann beginnt ihr Kalender?
Reise nach Rumänien
Leipzig - "Es war für uns ein Besuch bei ökumenischen Geschwistern", lautet das Resume von Johann Neudert über die Reise des ökumenischen Hauskreises der katholischen Trinitatisgemeinde und der evangelischen St. Petri-Gemeinde in die Moldau (Rumänien). Und das gilt, obwohl es für die meisten der zwölf Reisenden der erste Besuch in Rumänien war. Vorbereitet hatte diese Reise Evelyn Haeffner, die durch ihr Engagement für rumänische Kinderheime intensive Kontakte zu rumänischen Geistlichen hat. Die Reise regte den Hauskreis zu einer Foto-Ausstellung an. "Nicht um der Selbstdarstellung willen, sondern um für Verständnis für dieses Land zu werben", versichert Johann Neudert.
Die 55 Bilder zeigen in der St. Petri-Kirche noch bis Dezember kulturhistorisch einmalige Klosterkirchen und neu entstehende Kirchbauten, neue und alte Ikonen, die für westeuropäische Augen kaum zu unterscheiden sind, junge Gesichter unter dem ehrwürdigen Habit orthodoxer Würdenträger, Bilder aus Kinderheimen und Szenen zwischenmenschlicher Begegnung. Sie sind von mehreren Mitgliedern der Reisegruppe aufgenommen worden. Vor dem Betrachter entsteht ein buntes Mosaik von Eindrücken aus einem Land, das vielen Mitteleuropäern nur als Armenhaus bekannt ist.
Die Moldau ist eine der drei alten Kernlandschaften Rumäniens. Die meisten Einwohner gehören zur autokephalen, also selbständigen rumänisch-orthodoxen Kirche. Ihre Klosterbauten sind beredte Zeugen der Geschichte: Seit dem 14. Jahrhundert sind die Klöster der Moldau geistige und geistliche Zentren und Garanten der Kulturtradition. Sie sind in ihrer wehrhaften Bauweise auch Beleg dafür, daß das Land zwischen den Großmächten Osmanisches Reich, Rußland und Österreich immer wieder kriegerische Zeiten erlebte und fremde Herren ertragen mußte.
Die orthodoxe Kirche hat alten Landbesitz zurückerhalten und neue Freiräume gewonnen. Klöster übernehmen Verantwortung als Arbeitgeber. Dieselben Mauern bergen materielle Armut und kulturellen und religiösen Reichtum. Das Priesterseminar Manastirea Neamt quillt über von Kandidaten, vielen Klöstern geht es nicht anders. Im größten drängen sich mehr als 1000 Nonnen. "Die Klosterhöfe, die wir gesehen haben, sind allesamt Schmuckstücke", erzählt Neudert, "aber sie werden nicht von Touristen bevölkert sondern von Betern und Menschen, die mit Anliegen zu den Mönchen oder Nonnen kommen..
Der Lutheraner Dieter Ebert erzählt: "Es hat unheimlich stark beeindruckt, auf welche Weise diese Menschen ihren Glauben praktizieren, Riten und Bräuche zu sehen, die uns völlig fremd sind." Für ihn wie für den Katholiken Neudert ist klar: Es geht trotz dieser Fremdartigkeit um denselben Glauben, dasselbe Christentum. Gleichermaßen beeindruckt hat beide "die überwältigende Gastfreundschaft". Trotz der offensichtlichen Armut wurden sie immer wieder an Tafeln gebeten, die sich vor Speisen bogen.
"Ich bin nicht mehr bereit, schnelle Schlüsse zu ziehen", erklärt Neudert nach der Reise in bezug auf Glaubenspraxis, Lebensauffassung und -praxis anderer Menschen. Dabei sind schnelle Schlüsse schon lange nicht mehr seine Sache: "In unserem Hauskreis habe ich viel über die evangelischen Christen dazugelernt. Die Begegnung mit der Orthodoxie hat mich jetzt aber noch einmal sehr nachdenklich gemacht." Wie es um das gegenseitige Wissen steht, wurde bei einer Kirchenbesichtigung schlaglichtartig deutlich. Der Geistliche erklärt, daß eine Bilderfolge den orthodoxen Kalender darstelle, beginnend - natürlich - mit dem 8. September, dem Fest Mariae Geburt. Als die Deutschen erstaunt reagieren, stutzt der Rumäne: "Wann beginnt eigentlich Ihr Kalender?.
Der ökumenische Hauskreis entstand, als Leute in Petri in ihren Hauskreis wieder mehr Leben bringen wollten, erzählt Dieter Ebert. Aus der Begegnung mit Katholiken wurde ein gemeinsamer Kreis: drei Ehepaare aus der katholischen Propstei und drei aus St. Petri sind nun seit 18 Jahren dabei.
Über die ursprünglichen Diskussionen um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Glaubenslehre und -praxis sind sie lange hinaus. "Damit solch ein Kreis nicht einschläft, muß man immer wieder eine Menge Arbeit reinstecken", meint Ebert. Das gemeinsame Engagement für Rumänien dürfte ihm wieder einige Impulse gegeben haben, Impulse, die durch die Ausstellung weit über den Kreis hinausstrahlen.
Stephan Radig
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 10.11.1996