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Bistum Dresden-Meißen

Warum sehen die Menschen hier traurig aus?

Gäste aus Guatemala

Schmochtitz - Die Begegnungen mit fünf Stipendiaten und dem Leiter des Studienwerkes "Samenkorn" - alle aus dem Volk der Mayas aus Guatemala - sowie der seit zehn Jahren in Guatemala lebenden Initiatorin des Projektes, Maria Christine Zauzich, haben bei allen Beteiligten bleibende Eindrücke hinterlassen. Anfang November weilten sie zu einem Besuch in Schmochtitz und besuchten von dort aus die Region Bautzen/Dresden. In einem Kindergarten, einem Gymnasium, einer Studentengemeinde, in zwei Pfarrgemeinden sowie im Bischof-Benno-Haus waren die jungen Mayas zu Gast. Sie stellten sich mit Worten, Liedern und Tänzen vor und suchten von sich aus das Gespräch. Nicht nur einmal fragten sie, warum die Menschen in Deutschland oft so traurig aussähen.

Ein Beispiel: Im Bautzener Sorbischen Gymnasium kam es mit einem Geschichtskurs des 12. Schuljahres zu einem interessanten Dialog über nationale und religiöse Erfahrungen und Befindlichkeiten. Eine sorbische Schülerin bemerkte, daß bei den Mayas Religion und Alltag eine Einheit bilden; das sei bei vielen Menschen hierzulande nicht mehr so. Ein Schüler erkundigte sich nach der Möglichkeit, ob er seinen Zivildienst in Guatemala ableisten könne.
Das Besondere dieser Tage war die natürliche und ansteckende Freundlichkeit der Mayas - trotz vieler leidvoller Erfahrungen in den "Jahren der Gewalt" in Guatemala, die im Dezember 1996 mit einem Friedensvertrag zwischen Guerilla und Regierung zu Ende gehen soll. Über dreißig Jahre hat Guatemala einen blutigen Bürgerkrieg erlitten. Die Zahl der Opfer ist unüberschaubar, darunter viele Mayas - man kann vom Versuch eines Völkermords sprechen; zweitausend Katecheten und 20 Priester und Ordensleute wurden getötet.

Auf die "heilsame Kraft der Erinnerung" setzt man jetzt in Guatemala. Bereits 1994 rief die Kirche ein interdiözesanes Projekt mit dem Titel "Wiedererlangung der historischen Erinnerung" (REMHI: Recuperación de la Memoria Histórica) ins Leben. Das ganze Land bis in das kleinste Urwalddorf soll sich daran beteiligen. Dahinter steht die Überzeugung: Erst muß die Schuld beim Namen genannt werden, dann ist echte Versöhnung möglich. Es wurden Organisationsstrukturen aufgebaut und Interviewer ausgebildet. Diese rüstete man mit Tonbandgeräten aus und schickte sie in die Dörfer und Städte. Am Ende sollen die Ergebnisse den Gemeinden zugänglich gemacht werden, aus denen die Zeugnisse stammen.

Von diesem basisdemokratischen Vorgehen können wir in Deutschland einiges lernen; denn nicht zuerst und allein (Schein-)Prozesse und Gesetze ermöglichen einen wahrhaftigen Umgang mit der Vergangenheit, sondern das ehrliche Gespräch, der Dialog zwischen Tätern und Opfern. Nur so kann ein Neuanfang gemacht werden.

Guatemala ist eines der schönsten Länder der Welt. Blumen und Früchte wachsen das ganze Jahr - es ist immer Frühling ... Die farbenprächtigen Trachten der Mayas täuschen aber darüber hinweg, daß 80 Prozent der Bevölkerung in Armut leben. Davon ist besonders die indianische Maya-Bevölkerung betroffen, die mehr als 6 Millionen der rund 10 Millionen Einwohner ausmacht, 97 Prozent gehören der katholischen Kirche an. Das größte Problem ist die Landfrage, 2,5 Prozent der Landeigentümer besitzen 65 Prozent des Bodens. Zu den Konditionen des Friedens gehört auch die künftige Teilhabe der Mayas an Politik und Wirtschaft. Doch nur wenige konnten sich darauf vorbereiten. Nicht einmal ein Prozent der Mayas sind Hochschulabsolventen.

Das Projekt "Samenkorn" - ausschließlich aus privaten Spenden finanziert - trägt mit Stipendien dazu bei, daß junge Mayas studieren können und damit in die Lage versetzt werden, Verantwortung zu übernehmen und die Geschicke des Landes mitzubestimmen. In diesem Jahr werden bereits 85 Jugendliche unterstützt. Gefördert werden bevorzugt Mayas, vorrangig Waisen, Kinder alleinstehender Frauen und solche in besonderen Notlagen, die Verantwortungsbewußtsein zeigen, überdurchschnittliche Schulleistungen vorweisen und nach Beendigung ihrer Ausbildung in Guatemala arbeiten wollen.

Ein Höhepunkt des Besuches der Mayas war die Besichtigung einer alten Maya-Handschrift (des "Dresden-Codex") im Buchmuseum der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden und die sich anschließende Feierstunde in der Kirche der katholischen Pfarrgemeinde von Dresden-Neustadt. Es existieren nur noch drei derartige Schriften, allein das Exemplar in Dresden ist zugänglich. Anfang des 18. Jahrhunderts kaufte ein Dresdener Hofkaplan im Auftrag des Kurfürsten mehr als 300 Handschriften und Bücher in Wien. In einer Liste wird an Position 297 die Maya-Handschrift geführt, deren Zeichen man bisher nicht entschlüsseln konnte. Es ist anzunehmen, daß dieses Exemplar von den Spaniern im Zuge der Kolonisation nach Europa gebracht wurde.

Die Mayas waren sehr beeindruckt von dieser Schrift. "Ich habe mich gefragt, wer bin ich? Jetzt kann ich sagen, ich bin ein Maya", meinte Rosalio, ein angehender Diplom-Landwirt. Und Leonardo, Student des Journalismus, sagte: "Ich bin der Wahrheit und der Wirklichkeit unseres Volkes begegnet. Ich habe etwas gesehen, das uns gehört, einen Teil unserer Geschichte..

Nicht nur diese Feststellung, sondern auch die Tatsache, daß die Bundesrepublik derzeit mit Rußland und anderen Staaten über die Rückgabe von Kulturgütern verhandelt, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland weggebracht worden sind, löste die Frage aus, ob es nicht recht und billig wäre, den Nachfahren der Mayas ihre Handschrift zurückzugeben. Im Blick auf die mehrere Jahrhunderte andauernde Kolonisation wäre dies ein Zeichen der Versöhnung zwischen Europa und dem Volk der Mayas.

Dr. Peter Paul Straube
Information über das Projekt "Samenkorn": Bischof-Benno-Haus, 02625 Schmochtitz (Tel.: 035935/220)

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 46 des 46. Jahrgangs (im Jahr 1996).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 17.11.1996

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