Die Tür steht allen offen
Seit fünf Jahren gibt es in Halle wieder eine Bahnhofsmission
Ein Mann mit einem Blumenstrauß betritt den Raum. Erstaunte Gesichter richten sich auf ihn. Endlich entdeckt er die, für die die Blumen bestimmt sind. Mit bewegter Stimme sagt er: " Ich habe es geschafft: Ich bin endlich in der Lage, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen..
Soetwas ist in der Bahnhofsmission Halle zwar nicht alltäglich. Verwunderlich ist es aber auch nicht. "Es ist ein Geben und ein Nehmen. Da, wo man helfen konnte, kommt auch etwas zurück", sagen Barbara Weber (45) und Hannelore Walter (58), Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission Halle, über ihre Arbeit.
107 Bahnhofsmissionen gibt es in Deutschland. Die meisten arbeiten ökumenisch. Die Mitarbeiter begleiten die Menschen ein Stück auf ihrem Weg. Älteren Reisenden helfen sie beim Aus- oder Umsteigen oder tragen das Gepäck. Behinderten, Aussiedlern, ausländischen Touristen, Kindern oder Menschen, die nicht weiter wissen, helfen sie, sich zu orientieren, damit sie ihr Ziel erreichen. Die Mitarbeiter der Bahnhofsmission vermitteln aber auch Unterkunft, helfen bei Problemen und in Notsituationen und stellen - wenn nötig - auch Verbindungen zu Fachstellen der Sozialarbeit her.
Zur Zeit arbeiten drei Festangestellte, eine ABM-Kraft, drei Zivis, eine FSJ-lerin und 35 Ehrenamtliche, die zum Teil auch noch im Beruf oder Studium stehen, bei der Bahnhofsmission Halle. Viele der ehrenamtlichen Mitarbeiter, ohne die die Bahnhofsmissionstätigkeit gar nicht möglich wäre, haben durch Aufrufe in den Kirchengemeinden den Weg hierher gefunden.
In den warmen, gemütlichen Räumen, die etwas versteckt innerhalb des Bahnhofs liegen, ist jeder herzlich willkommen. An den Tischen sitzen die unterschiedlichsten Menschen. Aus der Küche riecht es nach Kaffee und Tee. Und auf den Tellern, die hereingebracht werden, liegen Leberwurstbrote oder Käseschnitten.
So wie alle anderen finden hier auch die vielen Wohnungslosen, die zum Teil täglich kommen, immer eine offene Tür. Sie wissen, daß sie hier nicht wieder weggeschickt werden. Von hier aus werden sie auch zur Stadtmission vermittelt, wo sie sich duschen oder Haare schneiden lassen können und auch Kleiderspenden erhalten.
Trotz der wichtigen Funktion, die eine Bahnhofsmission erfüllt, existierte zu DDR-Zeiten lediglich eine in Berlin. Alle anderen wurden geschlossen. Manchmal mit der Begründung, die Bahnhofsmission sei eine "Agenturzentrale des Westens". Erst 1991 konnte die Arbeit der Bahnhofsmission in Halle offiziell wieder aufgenommen werden. Am 20. Dezember wird der fünfte Jahrestag gefeiert. Zuvor wurden Görlitz und Dessau eröffnet, danach folgte Magdeburg, Chemnitz und Leipzig.
Die Geschichte der Bahnhofsmission in Deutschland führt lange zurück. Seit 1894 gibt es sie beispielsweise in Berlin. Damals bestanden die Aufgaben darin, junge Mädchen, die vom Land kamen und in der Stadt in Fabriken arbeiten wollten, vom Zug abzuholen und ihnen Orientierung zu geben. Während der Kriegszeit halfen die Bahnhofsmissionen den vielen Flüchtlingen, unter ihnen vor allem den Kindern.
Heute werden täglich 100 bis 200 Leute in den Räumen der Bahnhofsmission Halle verpflegt, 150 bis 200 Menschen, die mit oder ohne Fahrschein unterwegs sind, erhalten Hilfe. Und täglich werden zehn bis 50 Aussiedler unterstützt.
Mit Blick auf die Wohnungslosen sagt Frau Weber: "Viele kommen leider erst dann, wenn schon fast alles zu spät ist!" Die Entwicklung der Not spüre man bei dieser Arbeit hautnah. "Vor allem steigt die Zahl der obdachlosen Jugendlichen und psychisch Kranken immer mehr", sagt Hannelore Walter. In den meisten Situationen sei es einfach wichtig zu handeln, statt nur zu reden.
Auf die Frage, ob sie jemals aufgeben wollten, kommt ein klares Nein. "Natürlich gibt es Situationen, in denen man nicht weiter kann. Dann bittet man einen anderen, der in dieser Sache mehr Erfahrung hat oder besser mit der Situation klarkommt", meint Frau Weber. Probleme und Konflikte gebe es natürlich jeden Tag, aber dann sehen die Mitarbeiter der Bahnhofsmission in solchen Situationen immer nur den Menschen. "Wir haben gelernt, jemanden nicht gleich abzuschreiben. Wir sind für jeden, der kommt, offen", erzählt Barbara Weber.
Neben den alltäglichen Aufgaben organisiert die Bahnhofsmission auch Hilfsaktionen: "Wie jedes Jahr zu Weihnachten verteilen wir auch dieses Jahr aus Spenden Päckchen an Wohnungslose und Einsame ", erklärt Hannelore Walter. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn plötzlich jemand mit einem Blumenstrauß in die Bahnhofsmission kommt, um sich damit für Brot, Tee und die Freundlichkeit, die ihm entgegengebracht wurde, zu bedanken. Er wirft 20 Mark in die Sammelbüchse und verschwindet so schnell, wie er gekommen ist - mit den Worten: "Das es so etwas heute noch gibt. Ich danke euch..
Katharina Funk.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.12.1996