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Auf zwei Minuten

Was steckt im Menschen?

von Pater Damian

Pater Damian Meyer Es war einmal ein Bildhauer, der einen großen Marmorblock kräftig mit Hammer und Meißel bearbeitete. Ein kleiner Junge guckte zu, sah aber nur große und kleine Steinsplitter nach rechts und links herunterfallen. Er hatte keine Ahnung, was da vor sich ging. Als aber der Junge einige Wochen später wieder in die Werkstatt kam, erblickte er zu seinem großen Erstaunen einen mächtigen Löwen auf dem Platz, wo zuvor der Marmorblock gestanden hatte. Aufgeregt lief der Junge zu dem Bildhauer und sagte: "Sir, sagen Sie mir, woher Sie wussten, dass ein Löwe in dem Marmor steckte!"
Darstellende Kunst ist eine Kunst des Sehens und dann die Kunst, das Gesehene sichtbar zu machen. Michelangelo sah in einem Marmorblock die Gottesmutter, die ihren toten Sohn im Schoß hält. In einem anderen Block sah er David, wieder in einem anderen Mose. Der begabte Künstler befreit die Figuren, die Millionen von Jahren im Marmor verborgen und gefangen waren und nie ihr wahres Wesen zeigen konnten
Das Beispiel des künstlerischen Sehens weist hin auf eine wichtige Dimension unseres geistlichen Lebens, die Kontemplation. Der kontemplative Mensch sieht die Dinge so, wie sie wirklich sind, er erkennt die Zusammenhänge. Das bezieht sich nicht nur auf die Dinge, die Natur, sondern vor allem auf den Menschen. Wie sehen wir unsere Mitmenschen? Sind wir nicht versucht, sie in einfache Sparten einzuordnen, ihnen gewisse Etikette anzuheften wie langweilig, klug, dumm, progressiv, konservativ, liberal, orthodox, gläubig, ungläubig, anziehend, abstoßend, gut, schlecht? Werden unsere Mitmenschen aber auf diese Weise durchsichtig auf das hin, was sie eigentlich sind, was in ihnen steckt? Nur wenn wir uns selbst und den anderen als Person sehen, kommt das Eigentliche und Originale zu Tage. Das Wort "Person" kommt vom lateinischen per-sonare, das heißt "hindurch-tönen". "Als Personen sind wir aufgerufen, für einander durchsichtig zu sein, über unser eigenes Wesen hinaus zu weisen auf ihn, der uns seine Liebe, Wahrheit und Schönheit gegeben hat" (Henry J.M. Nouwen). Mit anderen Worten: Wir sollen als Gottes Abbild erscheinen.

Wie wird der Bildhauer die Frage des kleinen Jungen beantworten? Vielleicht so: "Ich wusste, dass ein Löwe im Marmor steckte, weil ich ihn schon in meinem Herzen sah, ehe ich ihn im Marmor erblickte. Das Geheimnis liegt darin, dass der Löwe in meinem Herzen den Löwen im Marmor erkannte."

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 36 des 51. Jahrgangs (im Jahr 2001).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 05.09.2001

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