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Bistum Dresden-Meißen

Suche nach alten Lebenswelten

Grabungen im Dresdner Stadtzentrum

Dresden - Umfangreiche archäologische Grabungen am alten sächsischen Kanzleihaus in Dresden gehen dem Wiederaufbau des Gebäudes voran, das künftig als "Haus der Kathedrale" genutzt werden soll. Insgesamt 12 000 Quadratmeter in bis zu 4,5 Meter Tiefe mußten von den Archäologen in den vergangenen Wochen und Monaten nach Zeugnissen der Vergangenheit freigelegt und dokumentiert werden. Ziel ist es, gesicherte Erkenntnisse über die Geschichte der Stadt zu erhalten. Die Grabungen werden von Katja Kliemann geleitet, die vor ihrer Dresdner Zeit in Lübeck als Archäologin tätig war.

Sie verweist darauf, daß die Arbeiten am Kanzleihaus Rettungsgrabungen sind, da der Baubeginn terminbezogen ist. Doch die Zeit drängt, Ende Januar scheint endgültig Schluß zu sein. Die Grabungen haben sich im Laufe der Zeit als kompliziert herausgestellt. Nur 20 Prozent waren unterkellert, der Rest bestand aus Erdreich, in Jahrhunderten aufgeschüttet und gewachsen. So ging und geht es langsam Schicht für Schicht hinunter bis Mutterboden oder Lehmschichten erreicht sind.

Für die Archäologen, so Katja Kliemann, ist hauptsächlich das Mittelalter und die Zeiten davor interessant. Das Kanzleihaus befand sich gegenüber der alten mittelalterlichen Burg, dem späteren Schloß und in unmittelbarer Nähe zur ersten steinernen Elbbrücke. Was hat damals hier gestanden? Eine kleine Sensation wurde bereits entdeckt. Katja Kliemann zeigt auf eine rötliche, gefärbte Schicht - für Laienaugen nur Erdreich. Doch die Archäologen erkennen mehr, es handelt sich um die Reste eines Fachwerkhauses aus der Zeit um das Jahr 1200, das vermutlich bei einem Brand einstürzte. Die Grabungsleiterin schätzt, daß es sich dabei um den bisher ältesten Gebäuderest auf dem Grabungsareal handelt.

Andere Befunde - so heißt ein Fund in der Archäologensprache - waren Latrinen, Brunnen, zwei verschüttete mittelalterliche Keller, Feuerungskanäle, die Überbleibsel eines Ofens und jede Menge Keramik. Dokumentiert wird mit den Grabungen die Lebenswelt zwischen 1200 bis 1945.

Doch das Areal ist ein Stück Vergangenheit, das bald nicht mehr auffindbar ist. Bagger werden das Gelände vernichten, um Baufreiheit für den Neubau zu schaffen, bei dem auch Tiefgaragen geplant sind. Übrig bleiben nur die Keller des Kanzleihauses, die in den Wiederaufbau integriert werden. Damit entsprechen die Projektanten einem Anliegen der Archäologie, interessante Bau-Befunde in den Neubau einzubeziehen.

Und doch stellt sich die Frage, was empfinden Archäologen, wenn plötzlich fast alles zerstört wird, was sie in Monaten Stück für Stück dokumentierten. Katja Kliemann hat ihre persönliche Philosophie: "Manchmal tut es mir schon Leid zu sehen, wie alles in kurzer Zeit verschwindet. Aber es macht auch Spaß, Neues entstehen zu lassen, das ist der Lauf der Geschichte..." Etwas verschmitzt fügt sie hinzu: "...und schließlich geben die Bauherren von heute auch Arbeit für Archäologengenerationen, die nach uns kommen. Vielleicht in 1000 oder 2000 Jahren..

Das Kanzleihaus wurde 1567 als Renaissancebau fertiggestellt. Der Bombennacht im Februar 1945 fiel auch dieses Gebäude zum Opfer. An die Zerstörung erinnern noch zahlreiche Stücke geschmolzenen Glases aus der Hofapotheke, die seit dem 19. Jahrhundert hier untergebracht war. Übrigens: Einen kleinen Teil davon erhielt Bischof Joachim Reinelt zum Geschenk, als er kürzlich die Grabungen besuchte. Im nächsten Jahr soll mit dem Wiederaufbau des Kanzleihauses begonnen werden.

Holger Jakobi

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 51 des 46. Jahrgangs (im Jahr 1996).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 22.12.1996

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