Jetzt 4 Wochen kostenfrei Tag des Herrn lesen!
Bistum Magdeburg

Die fremde Heimat spielen entdecken

Calbe (dw) - Vom Jahresbeginn an sollen die dreizehn bosnischen Kleinkinder, die im Caritas-Kinderheim Calbe untergebracht sind, noch gezielter als bisher auf ihre Rückkehr nach Sarajewo vorbereitet werden.

Mit Hilfe einer zusätzlichen bosnischen Betreuerin können sie bis zu ihrer Abreise im Frühjahr täglich vier Stunden ihre Heimatsprache hören und sprechen. Sie sollen Filme über Bosnien sehen, bosnische Tänze und die landestypische Küche kennenlernen und durch Bilderbücher und Rollenspiele mit den Lebensgewohnheiten des Landes vertraut werden.

Im August 1992 kamen die Bewohner eines Säuglingsheimes in Sarajewo mit Unterstützung von Landtagsabgeordneten nach Sachsen-Anhalt. 13 Kinder sind zunächst im katholischen Säuglingsheim Schönebeck untergekommen, seit dessen Auflösung leben sie in zwei Wohngruppen im Kinder- und Jugendheim St.-Elisabeth in Calbe.

Heimerzieher und -bewohner werden die kleinen Bosnier zwar gewiß vermissen, sagt Heimleiter Kunibert Stitz, deren Plätze im St.-Elisabeth-Heim sollen aber nicht lange leer bleiben. Wie die freien Kapazitäten genutzt werden, ist allerdings noch offen und muß letztlich gemeinsam mit den Jugendämtern entschieden werden. Verschiedene Alternativen sind im Gespräch, darunter eine Gruppe für seelisch behinderte Kinder, eine Mutter-Kind-Wohnung und eine Übergangsunterkunft für Kinder, bei denen die Sorgerechtsfrage geklärt werden muß. "Wir sind bereit, auf die Probleme zu reagieren, die Kinder und Jugendliche hier in der Region haben", sagt der Heimleiter. Auch die derzeit bestehenden Gruppen seien in dieser Absicht in Absprache mit den Behörden gebildet worden.

Mehr als fünfzig Jugendliche und Kinder leben derzeit im St.-Elisabeth-Heim, nicht alle jedoch im Hauptgebäude. Es gibt seit vergangenem Jahr zwei Jugendwohngemeinschaften, die 16- bis 20 jährigen den Übergang in die Selbständigkeit erleichtern sollen. Einige Kinder wohnen in sogenannten "professionellen Familienpflegenestern", für die ehemalige Heimerzieher, die zuvor im klassischen Sinne gearbeitet haben, ihre Familien geöffnet haben. In einer heilpäd-agogischen Tagesgruppe werden 7- bis 15jährige betreut, die noch in ihren Familien wohnen. Die Kinder haben zumeist Eltern, die mit der Erziehung überfordert sind. Die vorübergehende päd-agogische Begleitung schließt nach Möglichkeit nicht nur die Kinder, sondern die gesamte Familie mit ein.

Bis vor einigen Monaten war in dem Heim noch die Landes-Clearingstelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untergebracht. Einige ausländische Jugendliche leben auch jetzt noch im Heim: Zwei Chinesen, ein Angolaner, ein Vietnamese und ein bosnischer Jugendlicher gehören zu den Bewohnern.

In den zweieinhalb Jahren, in denen Kunibert Stitz die Einrichtung leitet, ist seinem eigenen Eindruck zufolge "in sehr kurzer Zeit eine Menge neu aufgebaut worden". Jetzt freut er sich auf eine Phase, in der Bestehendes sich festigen kann. "Es ist wichtig, daß jetzt etwas mehr Ruhe einkehrt", betont Stitz, zumal das Heim sich heute mit immer neuen Problemen auseinandersetzen müsse, darunter der Umgang mit Drogen und Homosexualität. "Viele kommen ohne inneren Halt hierher, ohne jemals Normen oder Grenzen kennengelernt zu haben und ohne die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen", hat der Heimleiter beobachtet.

Mit überdurchschnittlichem Engagement versuchten die Caritas-Mitarbeiter, den Kindern und Jugendlichen zur Seite zu stehen, sagt Kunibert Stitz über seine Kollegen. Die Arbeit sei für alle mehr als ein Job. Bei Bedarf können die Heimkinder auch einzeln betreut werden, das Haus hat gute Kontakte zu unterschiedlichen Selbsthilfegruppen und zu Beratungsstellen der Caritas und Diakonie. Auch wenn es unter den Heimbewohnern fast keinen Katholiken gibt, setzt das Heim bewußt religiöse Akzente. Unter anderem finden Advents- und Martinsfeiern im Haus statt, in der Fastenzeit hat Stitz ein Glaubensseminar angeboten, das sich nicht nur an die Bewohner des St.-Elisabeth-Heimes, sondern auch an Jugendliche aus der katholischen Pfarrgemeinde in Calbe richtet.

Religiöse Angebote dürften den Heranwachsenden, die nach dem Sinn ihres Lebens suchten, nicht vorenthalten werden, glaubt Kunibert Stitz. Christliche Werte könnten zudem helfen, Gemeinschaft wachsen zu lassen. "Das Heim ist mein richtiges Zuhause", habe ihm kürzlich ein Kind gesagt. Zwei Bewohner spielten sogar mit dem Gedanken, sich taufen zu lassen.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 51 des 46. Jahrgangs (im Jahr 1996).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 22.12.1996

Aktuelle Empfehlung

Der TAG DES HERRN als E-Paper - Jetzt entdecken!

Aktuelle Buchtipps