Kälte in Deutschland
Obdachlosen-Report
Leipzig (fun) - Die klirrende Kälte der letzten Wochen forderte allein in Leipzig zwei Todesopfer. 522 Obdachlose suchen Nacht für Nacht in der Stadt eine warme Unterkunft. "Aus diesem Grund ist unsere Kontaktstube probeweise eine Woche rund um die Uhr geöffnet", berichtet Ingeborg Tinschert, Leiterin der Leipziger Oase im Stadtzentrum. In den letzten Nächten hätten regelmäßig um die 13 Menschen in den Räumen der Oase übernachtet. "Auch wenn sie nur zwei Stühle zusammenschieben können; sie müssen wenigstens nicht auf der Straße schlafen.
Ob die Kontaktstube weiterhin rund um die Uhr geöffnet bleiben kann, entscheidet das Sozialamt der Stadt. Frau Tinschert: "Das hängt von den Temperaturen in den nächsten Tagen ab." Wenn diese Übernachtungsmöglichkeit zusätzlich zu den anderen Obdachlosenheimen bestehen bleibe, sieht sie allerdings keinen Grund mehr zur Besorgnis
Auch das Sozialamt der Stadt hat reagiert: Es bietet für Obdachlose Wohnungsvermittlungen an und übernimmt die Kosten. Frau Tinschert betont, daß Sozialamt unterscheide zwischen Wohnungslosen, die oft bei Bekannten unterkämen, und denen, die wirklich auf der Straße leben. Nur für letztere bestehe diese Möglichkeit
Ein anderes Problem: Mancher Obdachlose weigert sich, in einer Notunterkunft oder einem Übernachtungshaus unterzukommen. Das Verbot von Hunden in diesen Einrichtungen oder auch die Angst, daß das letzte bißchen Hab und Gut gestohlen wird, spielen dabei eine Rolle. Deshalb verteilen Obdachloseneinrichtungen auch warme Kleidung und Decken
Schwester Karola Maria Hikade vom Caritas-Tagestreff für Obdachlose in Erfurt ist nicht zufrieden mit der Reaktion der Stadt auf die Kälte. "Zwar hat der Hauptbahnhof geöffnet, doch das reicht auf keinen Fall aus." Sie wünscht sich, daß große Räume und Hallen bereitgestellt und billige Hotels angemietet werden. "Zur Zeit wird wesentlich zu wenig getan.
Etwas anders sieht es in kleineren Städten wie Görlitz aus. Die 38 Betten im Obdachlosenheim sind nicht ausgelastet, berichtet Peter Cording von der Görlitzer Bahnhofsmission. Auch in der Neißestadt vermittelt der Soziale Notdienst Zimmer für Obdachlose
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hält die Situation der Wohnungslosen im Osten für besonders gravierend. Obwohl die Anzahl mit 53 000 im Osten im Vergleich mit etwa 900 000 in den alten Bundesländern niedrig ist, hat es in den neuen Ländern einen 20prozentigen Anstieg gegeben. Im Westen blieb die Zahl dagegen gleich. Die Bundesarbeitsgemeinschaft fordert deshalb stärkere Vorbeugung. Wie in den alten Bundesländern sollten die Sozialämter auch im Osten Räumungen - die vom Amtsgericht verordnet werden - verhindern, indem sie die Mietschulden übernehmen, fordert die Arbeitsgemeinschaft. Das sei auf jeden Fall billiger, als ganze Familien in Notunterkünften unterzubringen.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 12.01.1997