Stimmen für Versöhnung
Gedenkgottesdienst für die Opfer des NS-Regimes
Bitterfeld (dw) - "Einmalig für Sachsen-Anhalt, vielleicht sogar für die gesamte Bundesrepublik" nannte Dr. Gunther Helbig, der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Halle, den jüdisch-christlichen Gedenkgottesdienst, mit dem am 27. Januar in der Bitterfelder katholischen Kirche der neue Gedenktag für Opfer der Verbrechen des Nationalsozialismus begangen wurde. Als Besonderheit stellte er nicht nur das gemeinsame Gebet von Gläubigen verschiedener Religionen heraus, sondern auch das engagierte Mitwirken Jugendlicher
In seiner Ansprache an die Bitterfelder Bevölkerung und Gäste aus der Region stellte Helbig sich selbst als "eine jüdische Stimme vor". Als Überlebender des Holocaust wolle er den Juden Stimme und Gesicht verleihen, die keine Stimme und kein Gesicht mehr hätten. Dabei wandte er sich besonders an die Katholiken, die ihre Märtyrer noch Jahrhunderte nach deren Tod innig verehrten. Ihm selbst sei das Andenken der sechs Millionen jüdischen Märtyrer sehr wichtig
Er lebe dafür, daß ihr Tod nicht ohne Sinn bleibe, indem er für Zivilcourage und andere Werte eintrete, die eine Wiederholung der Shoah verhindern könnten. "Wir sind nicht nur Rädchen im Getriebe, auch wenn man uns das noch so oft einzureden versucht", sagte der jüdische Vertreter. Deutsche Bürger dürften die unsagbaren Verbrechen, die von Deutschland ausgegangen sind, auch nicht hinter dem Antisemitismus und den Völkermorden verstecken, die es zweifellos auch in anderen Völkern gegeben habe
Sie müßten sich ihrer Verantwortung stellen und einer erneuten Eskalation des Antisemitismus und der Ausländerfeindlichkeit in ihrem Volk entgegenwirken. Hätten Zusammenkünfte wie die Bitterfelder Gedenkfeier bereits zur Zeit der Pogrome stattgefunden, wäre viel späteres Unheil verhindert worden, sagte Helbig überzeugt. Karl-Heinz Reck (SPD), Kultusminister in Sachsen-Anhalt, nutzte den Gedenkgottesdienst für einen Appell an die Lehrer des Bundeslandes. Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus müsse in erster Linie in den Schulen mit Leben erfüllt werden. Viele Bildungseinrichtungen seien davon allerdings noch weit entfernt. Als positives Beispiel nannte er das Anne-Frank-Gymnasium in Sandersdorf, das die Bitterfelder Gedenkveranstaltung mitgetragen hatte
Die Schule hat die Versöhnung zwischen Deutschland und Israel vor etwa zwei Jahren zu einem besonderen Schwerpunkt erklärt und das unter anderem durch die Namenswahl "Anne-Frank-Gymnasium" zum Ausdruck gebracht. 15 Schülerinnen und Schüler aus Sandersdorf reisten im vergangenen Jahr für einige Tage nach Israel, um dort persönliche Kontakte zu gleichaltrigen Israelis zu knüpfen. Einige Ergebnisse dieser Fahrt dokumentierten sie anschließend in einer Ausstellung im Magdeburger Landtag
Manuela Lott, Schülerin der elften Klasse, schilderte in der katholischen Herz-Jesu-Kirche ihre persönlichen Eindrücke von der Reise, auf der sie viel über die Geschichte ihres eigenen Landes und über die christliche und jüdische Religion gelernt hat. Sie bezeichnete es als "Chance", Freundschaften mit jüdischen Jugendlichen zu schließen
Landtagspräsident Klaus Keitel (CDU) bezeichnete eigene Begegnungen mit Juden, die sich in den vergangenen Jahren - zumeist aus Osteuropa kommend -in Sachsen-Anhalt angesiedelt hätten, als große Bereicherung. Es würde dem Land gut tun, wenn sich noch mehr jüdische Gemeinden ansiedelten. Unter anderem wünschte er sich, daß die ehemalige Synagoge in Görzig, die heute ein Museum beherbergt, wieder als jüdisches Gotteshaus genutzt würde. In Bitterfeld gab es nach Auskunft von Georg Kuropka, der vor einigen Monaten in Bitterfeld einen christlich-jüdischen Gesprächskreis ins Leben gerufen hat, in der NS-Zeit zwar kein Vernichtungslager, wohl aber ein Arbeitslager der IG Farben, in dem auch jüdische Zwangsarbeiter beschäftigt wurden
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 02.02.1997