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Aus der Region

Über die Reform des Sozialstaates, Fehler im Einigungsprozeß und das neue Selbstbewußtsein der Ost-D

Ex-DDR-Ministerpräsident de Maiziere

Frage: Sparpaket, Rentendiskussion, Steuerreform - der Sozialstaat in der Krise. Sind die Ostdeutschen schuld?
de Maiziere: Die Ostdeutschen und die ostdeutschen Probleme sind nicht die Ursache, allenfalls der Katalysator. Bei den sozialen Sicherungssystemen besteht seit Jahren ein Reformstau. Der Generationenvertrag - die jüngere Generation finanziert die ältere - funktioniert nur, wenn die jüngere Generation nicht kleiner ist als die ältere. In Deutschland gibt es schon lange einen kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang. Um die Bevölkerrungszahl zu halten, braucht Deutschland pro Ehe oder Partnerschaft, in denen Kinder geboren werden, etwa 2,7 Kinder. Es sind aber nur 1,3 Kinder

Dazu kommt: Die Lebenserwartung ist gestiegen. Im Gesundheitswesen sind die Kosten explodiert. Die hohe Arbeitslosigkeit verringert die Zahl der Einzahler in das System. Auch die Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten haben Geld gekostet

Das ist alles nicht neu. Darauf hätte sich die Bundesrepublik einstellen müssen. Sie hat es nicht. Statt dessen konnte sie aufgrund des anhaltenden Wirtschaftswachstums die Probleme durch staatliche Subventionen ausgleichen. Das ist nicht mehr möglich

PortraitFrage: Wird der eingeschlagene Kurs den Sozialstaat retten?
de Maiziere: Ob der Kurs schon richtig ist, weiß ich nicht. Aber das Problem ist allen bewußt. Allerdings beobachte ich etwas Merkwürdiges: Die Sozialdemokratie, die sich als Reformpartei beschreibt, ist reformunwilliger als alle anderen und darauf bedacht, die sozialen Besitzstände zu verteidigen. Und die Ostdeutschen, die jetzt von einem "Fall in Bodenlose" sprechen, erinnere ich nur an den Paragraphen 201 des Arbeitsgesetzbuches der DDR: Danach gab es im Krankheitsfall 90 Prozent Lohnfortzahlung für sechs Monate, dann 65 Prozent

Wir Ostdeutschen müßten mehr Verständnis für die Reformen aufbringen, wir wissen ja, wie Eis klingt, wenn es brüchig wird. Wir haben schon einmal einen Staatskonkurs erlebt

Frage: Und am Ende sind die Ostdeutschen Bürger zweiter Klasse?
de Maiziere: Nein, soweit es die sozialen Sicherungssysteme betrifft. Es wird ja keinen Unterschied in der medizinischen Versorgung zwischen Ost und West geben. Ein Problem ist und bleibt die Altersversorgung. In den alten Ländern haben die Menschen in der Regel mehrere Standbeine: die Rente, eine Kapitallebensversicherung, einen Bausparvertrag, eine Eigentumswohnung, ein Häuschen. Altersvorsorge über den Weg der Vermögensbildung, das konnten die meisten Ostdeutschen nicht. Hier wird es noch länger Unterschiede geben

Frage: Und das führt zu Spannungen. Die Deutschen in Ost und West sind sich heute fremder als vor sieben Jahren.
de Maiziere: Nein. Allerdings haben die unterschiedlichen Prägungen durch 45 Jahre Teilung, insbesondere durch 28 Jahre hinter Mauern, sehr tiefe Spuren hinterlassen, die wir in der Zeit der Mauer nicht wahrgenommen haben. Wir sahen uns als Besucher, Familien, Freunde. Wir mußten aber nicht die ganze Zeit miteinander leben

Ein zweiter Gedanke: Im Gespräch miteinander stellt man die Fremdheit viel weniger fest, als sie von Zeitungen oder im Fernsehen behauptet wird. Vergleichbar ist das mit der Frage, ob es den Ostdeutschen heute besser oder schlechter geht. 70 Prozent antworten, es gehe schlechter. Fragt man sie dann, wie es ihnen persönlich geht, sagen sie: Mir geht es besser.

Frage: Dennoch gibt es Spannungen. Was können die Deutschen denn jetzt tun?
de Maiziere: Miteinander sprechen und sich die unterschiedlichen Auffassungen und Meinungen nahebringen, das ist der einzige Weg. Wichtig ist dabei, sich mit Respekt zu begegnen und nicht in Rechthaberei auf der einen und Trotz auf der anderen Seite zu verfallen. Ich sehe durchaus Fortschritte, beispielsweise in Berlin: Anfangs war es ja hier sehr schwierig. Inzwischen sind wir viel weiter, auch wenn es immer noch sehr wenig Berliner gibt, die aus dem Ostteil der Stadt in den Westen ziehen oder umgekehrt

Frage: Würden Sie heute als letzter Ministerpräsident der DDR etwas anders machen?
de Maiziere: Es gibt wenige Dinge, die im Einigungsvertrag und in den begleitenden Gesetzen nicht glücklich gelöst sind. Damals erschienen diese Dinge aber nicht anders lösbar. Ein Beispiel ist das Eigentumsproblem, das heißt die Durchsetzung des Rückgabeprinzips

Ein zweites Beispiel: Wir haben versäumt, ein differenziertes Rentenüberleitungsgesetz zu schaffen. Inzwischen sind die größten Härten und Ungerechtigkeiten beseitigt, aber die Frage der Überführung der Sonderrentensysteme hat zu einer kolossalen Verschlechterung des Klimas geführt. 90 Prozent der Sozialrentner sagen zwar, es gehe ihnen entschieden besser, aber das Thema Rente wird von den zehn Prozent beherrscht, die zu recht oder unrecht meinen, sie seien zu kurz gekommen

Frage: Hätte man die Fehler nicht doch vermeiden können?
de Maiziere: Die besten Diagnosen hat immer der Pathologe. Eine Ausnahme ist die Lösung der Eigentumsfrage. Das habe ich damals schon als Fehler gesehen. Wir konnten uns aber in den Verhandlungen nicht durchsetzen - aus zwei Gründen: Zum einen war das Thema bei Teilen der Union und bei der FDP stark ideologisch besetzt nach dem Motto: Das Eigentum als von Grundgesetz geschützter Wert. Zum anderen: Wir konnten der Bundesregierung nicht sagen, wie viele Fälle von Enteignung rückgängig gemacht oder entschädigt werden müßten. Wir rechneten mit etwa einer halben Million Fälle. Inzwischen sind es zwei Millionen. Ein Finanzminister hätte einem Entschädigungsprinzip nur schwer zustimmen können, wenn er nicht weiß, um wie viele Fälle es sich handelt und was die Entschädigung dann kostet.

Frage: Abgesehen von den gesetzlichen Regelungen, ist es nicht ein grundlegender Fehler gewesen, daß Bundeskanzler Kohl damals nicht alle Deutschen zu einer großen Solidaritätsaktion aufgerufen hat? Stattdessen sprach er von blühenden Landschaften im Osten?
de Maiziere: Zunächst, ich habe das durchaus gesagt. Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden, hieß es in meiner Regierungserklärung. Der Mensch wendet sich dem anderen nur dann zu, wenn er mit ihm teilt. Das schließt die immateriellen Dinge ein, das Teilen, das gemeinsame Tragen von Lasten und Kümmernissen. Daß das die damalige Bundesregierung nicht getan hat, lag daran, daß man - angesichts der guten wirtschaftlichen Situation - glaubte, diese Aufgabe relativ leicht lösen zu können

Wir sind mit der Einheit leider in ein Wahljahr geraten. Und da gab es dann die eine Partei - die SPD - die sagte, das ist alles nicht zu bezahlen, also lassen wir es lieber oder schieben es auf die lange Bank. Diese Partei hat die Bundestagswahlen deutlich verloren und sich - was beispielsweise die Person ihres damaligen Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine betrifft - im Bewußtsein der Ostdeutschen davon bis heute nicht erholt

Ich habe dem Bundeskanzler geraten, wir sollten sagen: Wir wollen diese Jahrhundertaufgabe, dieses historische Geschenk anpacken und wollen uns das auch etwas kosten lassen. Er war der Meinung, daß die Westdeutschen überfordert wären, wenn man ihnen sagt, jetzt kommt die Zeit der großen Opfer. Ich glaube das nicht. Heute höre ich viele Alt-Bundesbürger: Man hätte uns damals sagen sollen, die deutsche Einheit, das kostet uns zehn Jahre jeden Monat zehn Prozent Solidaritäts-Zuschlag. Wir hätten ja gesagt, denn das ist der Größe der Aufgabe angemessen. Stattdessen hat man uns erzählt, wir zahlen das aus der Portokasse... Allerdings ist das jetzt natürlich auch eine feine Ausrede, um zu klagen

Frage: Mancher vertritt die These, nach dem Wegfall der Alternative DDR könne die Bundesrepublik ihr wahres, kapitalistisches Gesicht zeigen. Was halten Sie davon?
de Maiziere: Das, was wir zur Zeit in Deutschland erleben, hat nichts mit der Alternative Kapitalismus - Sozialismus und der Vorstellung einer spiegelbildlichen Entsprechung zu tun. Was wir erleben ist ein doppelter Strukturwandel: zum einen noch immer die Überführung der Planwirtschaft in Marktwirtschaft, zum anderen alles das, was mit dem Stichwort "Globalisierung" zu tun hat. Die Bundesrepublik und die Länder der Europäischen Gemeinschaft hatten bis zum gemeinsamen europäischen Markt 1993 sehr starke protektionistische Züge. Das heißt, man bemühte sich die einheimischen Produkte gegen ausländische Konkurrenz zu schützen. Die Binnenmärkte wurden abgeschottet, es kam zu solchen Dingen wie dem "Hähnchenkrieg" und so weiter. Aber die EG ist auf Außenwirtschaft angewiesen und mußte sich öffnen. Jetzt erleben wir weltweite Finanz- und Warenströme. Wir Ostdeutschen mußten ja - aus welchen Gründen auch immer -eine ganze Menge Marx lernen. Und da haben wir beispielsweise gelernt: Das Kapital geht immer dahin, wo es die besten Verwertungsbedingungen hat. Das ist zur Zeit nicht gerade in Deutschland

Ein Gedanke ist an der These allerdings dran. Früher definierten sich beide Seiten aus dem Kontra: aus dem Kontra-Imperialismus und aus dem Kontra-Kommunismus. Nun müßte man sich aus sich selbst definieren und stellt fest, daß das nicht einfach ist. Der Westen hat eben nicht gesiegt. Er ist nur übriggeblieben

Frage: Der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, der nach der Wende mit den "Jammerossis" hart ins Gericht gezogen ist, hat kürzlich sinngemäß festgestellt: Die Ostdeutschen hätten keinen Grund in Sack und Asche zu gehen, denn sie haben ein menschliches Kapital, um das sie der Westen eines Tages beneiden wird. Was halten Sie davon?
de Maiziere: Zunächst: Ich habe zu Herrn Maaz ein kritisch-distanziertes Verhältnis. Wenn er nach der Einigung der Meinung war, alle Ostdeutschen müßten entweder in den Beichtstuhl oder auf die Bank des Psychiaters und wenn das sein Problem ist, dann soll er das tun, aber nicht veröffentlichen

Die angesprochene These würde ich allerdings unterstreichen. Ich habe vor sechs Jahren gesagt: Wenn die wirklichen Probleme kommen, die mit der Globalisierung zusammenhängen, sind wir Ostdeutschen besser gewappnet, denn wir haben schon einmal Untergangserfahrungen sammeln können. In sehr festgefügten westdeutschen Regionen - etwa in der Schwäbischen Alp oder dem Allgäu - hat man den Eindruck, daß sich dort die Welt und ihre Verhältnisse in den letzten hundert Jahren nicht verändert haben. Und da wird es noch ein böses und gefährliches Erwachen geben

Frage: Stellen Sie denn fest, daß die Ostdeutschen zu neuem Selbstbewußtsein finden?
de Maiziere: Ja, an Kleinigkeiten. Anfänglich war der Ostdeutsche beleidigt, wenn man ihn Ossi nannt. Inzwischen ist er wie ein trotziges dreijähriges Kind. Er nennt sich selbst bei seinem Namen Ossi und sagt: Das kann ich alleine. Besonders wichtig ist mir aber, daß die Ostdeutschen ihre Vergangenheit, ihre Biographie nicht mehr leugnen, denn: Leben hat nur dann Segen, wenn man es zwischen Vergangen-heit und Zukunft leben kann

Frage: Schnell kommt dann aber auch der Vorwurf der Ost-Nostalgie.
de Maiziere: Zu den Fügungen der Natur gehört es, daß der Mensch mit den Jahren die unangenehmen Dinge vergißt. Und etwas von der Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens ist schon dabei: Das Leben in der DDR war zwar langweilig und grau, aber sicher

Frage: ... und man hatte viel mehr Freunde in der DDR, während man heute in einer Ellenbogen-Gesellschaft leben muß?
de Maiziere: Seien wir ehrlich: Die Solidarität, die in der DDR gelebt wurde und deren Fehlen jetzt beklagt wird, war doch eine Luftschutzkeller-Solidarität. Ein Beispiel: Die DDR ist an ihren ökonomischen Problemen zugrunde gegangen und die Ursache war, daß das vielbeschworene Leistungsprinzip permanent verletzt wurde. Leistung hat sich nicht gelohnt. In einem VEB jemanden zu finden, der zwei Jahre Meisterschule gemacht hätte, um dann 150 Mark mehr zu haben, für die er nichts kaufen kann, war doch schwierig. Heute ist das anders. Deshalb ist das Leben ohne Zweifel anstrengender und raubeiniger. Aber es ist auch farbiger

Interview: Matthias Holluba

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 6 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 09.02.1997

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