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Bistum Erfurt

Zweite Familie

Schülertreff an Leinefelder Regelschule

Leinefelde (ep) - "Wir kommen fast jeden Schultag her", sagt Marcel. Mit drei seiner Kumpels steht der Fünfzehnjährige im Schülertreff "Oscar" um ein Tischfußballspiel herum. "Wir quatschen hier, spielen was, machen unsere Hausaufgaben", sagt Marcel, während er an einem der Griffe des Fußballkickers dreht und damit das Spiel fortsetzt. "Wenn wir unsere Sachen nach Hause gebracht haben, kommen wir oft nochmal her", fährt der Junge aus der achten Klasse fort. "Was sollen wir sonst machen?

Seine Mitstreiter nicken. Es gibt wenig Angebote für Kinder und Jugendliche hier im ehemaligen DDR-Neubaugebiet Leinefelde-Süd. So ist es kein Wunder, wenn bis zu 50 oder manchmal 60 Mädchen und Jungen pro Tag das Angebot in der Johann-Carl-Fuhlrott-Schule annehmen. "Die ersten sind schon früh hier, wenn sie eine Freistunde haben", erzählt Günter Gaßmann, pädagogischer Mitarbeiter im Treff. "Die meisten kommen aber erst nach der Schule." Seine Kollegin Eva Siegel ergänzt: "Dann lassen sie bei uns erstmal Dampf ab über das, was sie während des Schultages erlebt haben.

Träger des Treffs ist die Katholische Jugendsozialarbeit im Eichsfeld. Der Name "Oscar" soll ein bißchen Programm sein. "Oscar" steht für "Offenheit", "Spiele", "Chancen", "Aktion" und "Ruhe". Der Treff wurde vor drei Jahren im Rahmen des Modellprojekts "Jugendarbeit an Thüringer Schulen" eingerichtet und wird vom Team der Heiligenstädter "Villa Lampe" geleitet. "Der Anfang war nicht ganz einfach", erzählt der Leiter der Villa-Arbeit im Eichsfeld, Pater Franz-Ulrich Otto. Verständlicherweise habe es unter den Lehrern skeptische Fragen gegeben wie: Kann das gut gehen, wenn noch andere Pädagogen in der Schule arbeiten? Doch durch gemeinsame Unternehmungen wie etwa Projektwochen und Ferienfahrten seien Untersicherheiten und Skepsis bei Lehrern, Schülern und eigenen Mitarbeitern weitgehend abgebaut worden, so Pater Otto

Schulleiterin Ellen Backhaus bestätigt dies. "Uns Lehrern ist bewußt geworden, daß viele Probleme, die in der Schule auftreten, mit Mitteln der Schulpädagogik nicht gelöst werden können. Deshalb muß die bewährte Arbeit der Villa auch nach Ende des Modellprojekts in diesem Sommer fortgesetzt werden", so die Direktorin der Fuhlrott-Schule "Wenn ich mit Jugendlichen spreche, wird immer wieder deutlich, daß die Mitarbeiter der Villa Lampe wichtige Ansprechpartner, Berater, Freunde, Bezugs- und Vertrauenspersonen sind, ja manchmal sogar als zweite Familie gesehen werden.

Inzwischen bewährt haben sich auch die von der "Villa" konzipierten Berufsorientierungswochen für Hauptschüler. Ziel ist es, deren Chancen bei der Ausbildungsplatzsuche zu verbessern. Gemeinsam mit einigen Lehrern und Villa-Mitarbeitern fahren die Schüler von 8. Klassen in einer solchen Woche gemeinsam zum Beispiel in das Selbstversorgerhaus der Jugendseelsorge des Eichsfeldes auf der Bleibe. Dort wird gemeinsam darüber nachgedacht, welche Fähigkeiten der einzelne besitzt, was er damit beruflich anfangen könnte, welche Alternativen es noch gibt, wenn es mit dem Traumberuf nicht klappt. Auch Betriebsbesichtigungen oder ein Besuch im Berufs-Informations-Zentrum (BIZ) stehen dann an. Am Ende haben die Schüler zwar noch keinen Lehrvertrag, aber für sie ist das Spektrum ihrer Möglichkeiten gewachsen, und wie man sich bewirbt, haben sie auch schon mal geübt

Die "kleine Villa", wie die Schüler ihren Treff im Anklang an das Haus "Villa Lampe" in Heiligenstadt liebevoll nennen, ist prinzipiell für alle Mädchen und Jungen offen. "In erster Linie dasein will das Angebot allerdings für benachteiligte Jugendliche", betont Pater Otto, also zum Beispiel für Schüler aus schwierigen Familienverhältnissen oder Jugendlichen, die sich mit dem Lernen schwertun. Denn es sei nicht Aufgabe der Schule, Jugendarbeit anzubieten. Dies sollten besser freie Träger tun. "Wohl aber muß in der Schule zunehmend Sozialarbeit geleistet werden, weil die Lehrer einfach nicht mehr allein klarkommen", sagt Pater Otto

Dem wollen er und sein Team künftig noch stärker Rechnung tragen: Ein vom Villa-Team erarbeitetes Konzept zur Schulsozialarbeit im Landkreis Eichsfeld sieht vor, daß künftig zwei Mitarbeiter in Leinefelde noch stärker als bisher mit den anderen beiden Regelschulen der Stadt zusammenarbeiten und auch dort einen Anlaufpunkt anbieten. Die Arbeit soll in Verbindung mit den Beratungs- und weiteren engagierten Lehrern an der jeweiligen Regelschule erfolgen. Vergleichbares ist auch für die drei Heiligenstädter Regelschulen vorgesehen, wo bisher in der Theodor-Storm-Schule ebenfalls in Villa-Regie zwei Mitarbeiter einen Treffpunkt anbieten. Außerdem sollen zwei weitere Villa-Mitarbeiter ähnliche Angebote in den übrigen Regelschulen des Landkreises organisieren und koordinieren

Die Tatsache, daß die Finanzierung der beiden bisher als Modellprojekt gelaufenen Schülertreffs in Leinefelde und Heiligenstadt Mitte des Jahres endet, sieht Pater Otto relativ gelassen. Der Villa-Leiter hofft, daß dafür Gelder aus der seit Januar 1997 eingeführten Jugendpauschale eingesetzt werden können

Daß ihre Leinefelder "Villa" auch im nächsten Schuljahr fortbesteht, hoffen auch die Schüler. Genadi etwa ist einer von 20 Prozent der Schüler an der Fuhlrott-Schule, der mit seinen Eltern als Aussiedler nach Leinefelde gekommen ist. Fast jeden Tag triff sich der aus Kasachstan stammende 17jährige Jugendliche mit Mitschülern in der kleinen Villa, um dann in der Turnhalle Fußball zu spielen, Musik zu hören, ein Video anzusehen. Und während sie miteinander spielen oder etwas anderes tun, ergibt sich auch so manches Gespräch mit Eva Siegel und Günter Gaßmann über den Schulstreß, über Probleme in der Familie, über eine künftige berufliche Perspektive. Und bei manchem Problem ist sogar Hilfe möglich ..

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 10 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 09.03.1997

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