Geht unter die Haut
Ruth Kölblin zum Sozialwort
Dr. Ruth Kölblin aus Jena war an der Erstellung der Diskussionsgrundlage für ein gemeinsames Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland beteiligt. Der Tag des Herrn sprach mit ihr über das jetzt vorgestellte Wort der Kirchen
Frage: Frau Kölblin, welchen Eindruck haben Sie vom Wort der Kirchen
Kölblin: Im Vergleich zur Diskussionsvorlage hat es enorm an Aussagekraft gewonnen, weil es neben den grundsätzlichen Ausführungen über die soziale Marktwirtschaft konkrete Vorschläge zur Lösung der Probleme unterbreitet und allgemein verständlich ist. Besonders freut mich, daß es gelungen ist, den spezifischen Beitrag der Kirchen für die Umorientierung der Gesellschaft aufgrund unseres Glaubens und der Herausforderung durch das Evangelium - die letztlich in der christlichen Soziallehre verankert sind - deutlich zu machen. Daß die Hauptgedanken in einer zehn Thesen umfassenden "Hinführung" vorangestellt wurden, ist eine gelungene Ermutigung, sich mit Interesse dem ganzen Text zu widmen
Frage: Sie haben sich besonders dafür eingesetzt, daß die ostdeutschen Probleme zur Sprache kommen. Ist das gelungen
Kölblin: Ich hätte mir manche Formulierung schärfer gewünscht. Unsere Probleme und Befindlichkeiten kommen aber an verschiedenen Stellen deutlich zum Ausdruck. Zum Beispiel wenn es um Arbeitslosigkeit oder um die Situation der Frauen geht
Frage: Mehrere Monate ist über dieses Wort diskutiert worden. Was hat der Konsultationprozeß bewegt
Kölblin: Der Prozeß hat das Papier wesentlich beeinflußt. Ein Vergleich mit der Diskussionsvorlage zeigt das. Schon deshalb war der Konsultationsprozeß erfolgreich. Außerdem sprechen die Zahlen für sich: Es sind 2500 Stellungnahmen mit einem Umfang von über 25 000 Seiten eingegangen. Und drittens: Daß auch Gespräche mit Politikern, Wirtschaftsexperten und Gewerkschaftern geführt wurden, hat einen eigenen Wert und hoffentlich auch etwas zur Bewußtseinsbildung beigetragen
Frage: Was kann der einzelne tun, damit es dem Papier nicht so ergeht, wie anderen, die in der Schublade verschwunden sind
Kölblin: Zunächst das Wort aufmerksam lesen und mit Freunden diskutieren, denn das Nachdenken über die gegenwärtigen Herausforderungen und die gemeinsame Suche nach Lösungen müssen weitergehen. Jeder muß sich fragen, was er persönlich in seiner Situation für das Gemeinwohl tun kann: durch finanzielle Hilfen, durch Opfern von Freizeit in einem Ehrenamt oder anderes. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Das Wort enthält viele konkrete Anregungen. Beim Lesen kam mir der Gedanke, daß das Wort zur "Gewissenserforschung" dienen kann. Es ist eine Herausforderung für jeden, dem das Gemeinwohl am Herzen liegt. Mir geht der Text ganz schön unter die Haut
Interview: Matthias Holluba
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 16.03.1997