Senioren nehmen ihr Leben selbst in die Hand
Wohngemeinschaften fürs Alter
Eine Wohngemeinschaft - das ist etwas für junge Leute, zumeist Studenten, die Geld sparen wollen - sozusagen modern zusammen wohnen und leben. Diese Definition haben die meisten parat, wenn sie den Begriff Wohngemeinschaft - kurz "WG" - hören. Es trifft jedoch nicht immer zu. Denn diese Art des Zusammenlebens, die sich in den letzten Jahren etabliert und beliebt gemacht hat, ist seit kurzem auch in den neuen Bundesländern für ältere Menschen möglich
Sieglinde Wartenberg (60) und Erhard Becke (61) sind die Gründungsmitglieder des Vereins "alt-WERDEN in Gemeinschaft", der im Frühjahr 1996 ins Leben gerufen wurde und bisher nur in Dresden aktiv ist. Auslöser für das Entstehen dieses Vereins war unter anderem ein Projekt in Bielefeld. Dort wird die Idee der "WG" aufgegriffen und für das Zusammenleben älterer, junger und behinderter Menschen angewandt. Sieglinde Wartenberg und Erhard Becke sahen sich das Haus in Bielefeld an und waren begeistert, daß diese Form des Wohnens seit Jahren so gut funktioniert. Daraufhin faßten sie den Entschluß, dieses Projekt in ähnlicher Form auch in den östlichen Ländern zu verwirklichen
Heutzutage ist das Leben für Senioren nicht nur finanziell, sondern auch im menschlichen Bereich sehr belastend. Der Wunsch vieler älterer Menschen ist es, nicht in ein teures Altersheim zu kommen, andererseits möchten sie aber auch der Einsamkeit entfliehen
Der Verein "alt-WERDEN in Gemeinschaft" will das ermöglichen. Nach dessen Konzept sollen fünf bis sieben Senioren in einer speziell dafür eingerichteten Wohnung zuammenleben. Jede Person bekommt ihr eigenes Zimmer, dazu gehören Dusche, Toilette und Waschbecken. Geteilt werden Gemeinschaftsräume und Küche. "Eine weitere Forderung an die Wohnungsgenossenschaften ist die Einrichtung von zwei Bädern, wovon eins behindertengerecht sein sollte", sagt Erhard Becke. Weiterhin sollte eine Notrufanlage vorhanden sein, durch die die Senioren mit einer Sozialstation oder einer anderen medizinischen Einrichtung verbunden sind. "Insgesamt sollte die Wohnfläche bei sieben Mitgliedern etwa 200 bis 250 Quadratmeter betragen, wobei jeder Mieter circa 35 Quadratmeter für sich selbst beanspruchen kann", erzählt Erhard Becke. Die Wohnungen sollten sich auch in der Nähe von günstigen Verkehrsverbindungen, Einkaufsmöglichkeiten und einem Park oder ähnlichem befinden
"Einen Kostenüberschlag haben wir nach den Erfahrungen des Bielefelder Projektes zusammengestellt", erzählt Sieglinde Wartenberg. Mit Miete, Energie, Versicherung, Haushalt, Zeitung, Kultur und Telefon sollte jeder Interessent mit 910 bis 1140 Mark pro Monat rechnen. "Diesen Betrag müssen sie nicht an uns zahlen. Es ist ein reiner Kostenüberschlag für jeden potentiellen Mieter, der danach für sich entscheiden kann, inwieweit er damit auskommt" erzählt sie. " Und im Gegensatz zu betreutem Wohnen müssen unsere Interessenten keinen Vertrag unterschreiben", wirbt Erhard Becke
Obwohl das preiswerte Wohnen sicherlich ein wichtiger Grund ist; es ist auch ein sehr äußerer: "In all unseren Gesprächen mit den Senioren haben wir immer wieder gehört, daß es für sie wichtig ist, nicht einsam zu sein, Kontakte zu knüpfen und vor allem gebraucht zu sein; noch mittun zu können", berichtet Sieglinde Wartenberg von ihren Erfahrungen. Diese Wünsche sind in den Wohngemeinschaften - die sie ins Leben rufen - wesentlich. "Jeder, der in dieser Gemeinschaft lebt, wird auch von den anderen Mitbewohnern gebraucht. Durch ihre individuellen Fähigkeiten werden sie einander unterstützen.
Sieglinde Wartenberg weiß wovon sie spricht. Einmal in der Woche besucht sie nebenbei ein Altenheim in Dresden. "Dort habe ich sehr negative Erfahrungen gemacht. Die alten Menschen fühlen sich nutzlos und sind deswegen unglücklich. Obwohl sie meistens noch kleine Arbeiten -wie beispielsweise Abwaschen- für sich selbst gern erledigen würden, wird ihnen alles abgenommen", erzählt sie
Trotz der Angst vor Altersheim und Einsamkeit, wollen die Senioren aber auch ihren Kindern nicht zur Last fallen. Das sei für viele der wichtigste Grund, sich für das Projekt zu interessieren. Oft haben Erhard Becke und Sieglinde Wartenberg den Satz gehört, der ihnen in diesem Zusammenhang gesagt wird: "Ich habe das mit meinen Eltern erlebt und will auf keinen Fall, daß meine Kinder die gleichen Schwierigkeiten mit mir haben." Auch Sieglinde Wartenberg meint: "so schön es ist, wenn Eltern mit ihren Kindern zusammenleben, so große Probleme gibt es auch." Es sei eben eine starke Einschränkung für die jungen Leute
Bisher konnte der Verein, der heute 14 ehrenamtliche Mitglieder hat, sich vor allem im kirchlichen Bereich, wie beispielsweise bei Seniorenkreisen, Kontaktaufnahme mit dem Pfarrer oder durch Gemeindebriefe, bekannt machen. Interessenten werden zu Treffen eingeladen, wo sie sich kennenlernen und informieren können. "Um die 60" benennen beide als das beste Alter, diesen Schritt zu wagen
"Sicherlich sind viele hin und hergerissen, ob das für sie persönlich auch etwas sein kann", spekuliert Erhard Becke. Man sollte Lust auf Gemeinschaft haben, nicht immer allein sein wollen und tolerant sein. Es ist ein Schritt, der vielen nicht so leicht fällt, vor allem wenn sie jahrelang allein gelebt haben. "Denn man muß neu anfangen", erklärt Erhard Becke. Dennoch haben viele Senioren schon mit Begeisterung zugesagt, in nächster Zeit in einer solchen Gemeinschaft wohnen zu wollen. Im Sommer kann die erste Wohngemeinschaft realisiert werden. In Dresden-Wölfnitz entsteht eine Wohnung, in die sechs bis sieben ältere Menschen einziehen können
Doch der Verein sucht weitere Wohnobjekte für weitere Interessenten. Zur Zeit arbeitet der Verein "alt-WERDEN in Gemeinschaft" mit zwei bis drei Wohnungsbaugenossenschaften und stadteigenen GmbH´s enger zusammen. Auch dem Caritas-Sozialwerk gefällt die Idee des Vereins; künftig wird er dessen Arbeit unterstützen
Der Vorteil ist, daß die Wohneinheiten - trotz Aus- und Umbauten - mit einem relativ geringen Investitionsaufwand erstellt werden können, sagt Erhard Becke. "Deshalb können in jedem Stadtteil und jedem Gebiet solche Gemeinschaften entstehen." So müßten alte Menschen ihre gewohnte Umgebung, ihren Frisör, Arzt, oder Bäcker nicht aufgeben. Sieglinde Wartenberg und Erhard Becke wohnen selbst in einer WG: Insgesamt sind es fünf Senioren zwischen 60 und 63 Jahren. "Wir tun viel gemeinsam, fahren zusammen in den Urlaub und haben uns auch einiges gemeinsam gekauft", erzählt Sieglinde Wartenberg. So haben sie sich ein Auto, eine Waschmaschine und einen Fernseher angeschafft. Auch das Haushaltsgeld kommt in einen Topf
"Natürlich haben wir ab und zu Probleme, aber insgesamt fühlen wir uns wohl, so wie wir jetzt zusammen leben", lächelt Sieglinde Wartenberg. Und diese Erfahrungen wollen sie nun auch anderen vermitteln. Der Verein besorgt also nicht nur Wohnobjekte und vermittelt zwischen Interessenten, sondern wird in Zukunft auch Anprechpartner für die Mieter sein: Probleme zu lösen, Haushaltshilfen zu besorgen, ambulante Pflegedienste zu organisieren und vieles mehr
"Wir führen sie auf den Weg, den sie selber leben wollen und begleiten sie dabei", sagt Erhard Becke. "Deshalb auch unser Name: "alt-WERDEN..." - ein Prozeß, der schwierig ist und bei dem die Senioren nicht allein gelassen werden sollten", erklärt Sieglinde Wartenberg ihre Aufgaben.Wer an einer solchen Wahlfamilie interessiert ist, nicht in Einsamkeit alt werden und trozdem selbständig bleiben will, kann sich an den Verein "alt -WERDEN in Gemeinschaft" wenden.
Katharina Funke
Kontaktadresse: Erhard Becke, Hohe Straße 102 in 01187 Dresden, Tel.: 0351/ 40 30 577
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 16.03.1997