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Aus der Region

Volk von Sinnen?

Gastbeitrag zur Albanien-Krise

Selbst Albanienkenner sind überrascht von Tempo und Intensität der Implosion dieses Staates. Wirkte noch 1996 alles friedlich, glaubte man eine gewisse öffentliche Ordnung auszumachen, sind nun Gewaltorgien, Selbstbewaffnung und Plünderungen an der Tagesordnung. Parallelen zu 1991 drängen sich auf, als das stalinistische System abgeschafft wurde. Aber wohl nicht gründlich genug: Noch Präsident Berisha war Leibarzt des Diktators Hoxha gewesen, kannte die Klaviatur der Macht, baute sich ein eigenes Klüngelsystem auf.

Die betrügerischen Anlagefirmen waren sicher nur die Lunte am Pulverfaß; zuviel war dem Volk voreilig versprochen worden, alle vermeintlichen Segnungen des Kapitalismus wollten die "Adlersöhne"; - in fast kindlicher Einfalt - sofort genießen. Erklärungsversuche, die die Katastrophe nur auf wirtschaftliche Ab-Gründe zurückführen, greifen zu kurz. Da ist ein stolzes, heißblütiges, patriarchalisches Bergvolk - traditionell staatsfern und autonom veranlagt - die eigenen Konflikte notfalls mittels Blutrache bewältigend, fast 50 Jahre vom Nationalkommunisten Hoxha eingesperrt, gedemütigt und sämtlicher Freiheiten beraubt. Und dieses Volk erlebte in den vergangenen Jahren, wie es nur als verlängerter Verkaufstisch einiger westlicher Staaten mißbraucht wurde. Neue Arbeitsplätze wurden kaum geschaffen. Eine erneute Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit machte sich breit, den Wandel von der Kollektiv- zur Individualisierungs-Gesellschaft verstand kaum jemand zu meistern.

Die schrecklichen TV-Bilder von Minderjährigen, die mit Kalaschnikows herumfuchteln, sind Programm: Hier entlädt sich echter Volkszorn. Dabei ist wichtig zu wissen, daß der Albaner unter persönlicher Freiheit noch immer das Fahren eines Autos und den Besitz einer Schußwaffe versteht. Die Selbstbewaffnung des Volkes ist ein letzter Aufschrei der Angst, der Ratlosigkeit, des Nicht-Bewältigens der Vergangenheit und Gegenwart.

Andererseits, wem es vergönnt war, dieses Land zu besuchen, der hat aufrichtige, herzliche Gastfreundschaft und Sympathie erfahren dürfen.

Die Schwierigkeit dieser Nation ist sicherlich das Fehlen einer eigenen moralischen und integrativen Autorität; die Religionsführer von Islam, Orthodoxie und Katholizismus vermögen dies nicht zu leisten, dazu sind sie bekenntnismäßig viel zu gespalten: es gibt nur eine Religion des Albaners: Das Albanertum.

Wer jedoch heute im Westen meint: "Was geht uns dieses wilde Bergvölkchen überhaupt an?, der handelt gedankenlos. Die albanische Krise kann sich in die Nachbarländer ausweiten, wo viele Albaner leben. Beispielsweise in Kosovo, wo sie von den imperialistischen Serben unterdrückt werden. Wenn dieses Pulverfaß hochgeht, dann könnte der Balkan erneut brennen, direkt vor der EU-Haustür. Handlungsbedarf ist dringend gegeben. Nur ein Aspekt sind schnelle Getreidelieferungen: der Hunger in Albanien lugt aus allen Ecken.

Jedoch gibt es inzwischen Hoffnungsschimmer im Chaos. In Tirana fand eine Spontan-Demo - besonders von Frauen - statt, die eine gewaltlose, friedliche Lösung, eine große nationale Allianz forderte. Und das mit Blumen in den Händen! Dies ist das richtige Signal. Hier sind die Kirchen des Westens gefordert, diese neuen Friedensgruppen moralisch und finanziell zu unterstützen. Und das bald.

Andreas Bogoslawski

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 12 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 23.03.1997

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