"Das gab es bei Honecker nicht"
Forum befaßte sich mit "Freiheit" und "Sicherheit" in der heutigen Gesellschaft
Neudietendorf (fr) - "Das hat es bei Honecker nicht gegeben!" Mit diesem Satz reagieren Menschen im Osten Deutschlands nicht selten auf Vorfälle in der Gesellschaft. So mancher fühlt sich zunehmend weniger sicher und äußert sich unzufrieden über den Zustand der inneren Sicherheit. Denn mit der gewonnenen Freiheit in der pluralistisch-demokratischen Bundesrepublik hat zugleich bei vielen die Lebensangst zugenommen und ist für so manchen zum ständigen Begleiter geworden.
Um über die "Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit als ethisches und politisches Problem" nachzudenken, hatten die Katholische und die Evangelische Akademie im Land Thüringen Christen beider Konfessionen am vergangenen Wochenende nach Neudietendorf eingeladen. Theologen und Politiker stellten sich bei verschiedenen Foren aus ihren je eigenen Perspektiven der Thematik.
Nach Kenntnis des Polizei-Seelsorgers des Bistums Dresden-Meißen, Dr. Peter Knorn, ist das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen negativer als die objektive Sicherheitslage. Das resultiere daraus, daß heute mehr Straftaten durch die Medien öffentlich gemacht würden als dies in der DDR der Fall war, so Dr. Knorn im Rahmen eines Vortrages zum Thema "Freiheit und Sicherheit. Ein ethisches Dilemma". Zudem habe sich die Erfassungsstatistik geändert: Jeder kleine Ladendiebstahl werde jetzt als Straftat erfaßt.
"Freiheit steht nicht gegen Sicherheit.", so der Polizei-Pfarrer. Eine größere öffentliche Sicherheit könne nicht durch Einschränkung der Freiheit erreicht werden. Dr. Knorn: "Daß ich Freiheit ausüben kann, das macht meine Sicherheit aus." Bei der Erhöhung der öffentlichen Sicherheit spiele die Prävention (Vorbeugung) eine große Rolle, so der Polizei-Seelsorger. Hier trügen nicht nur der Einzelne, sondern auch die gesellschaftlichen Gruppen wie Familien, Schulen, Unternehmen, Kommunen und Kirchen Verantwortung.
"Menschen, die nach Sicherheit schreien, wollen Geborgenheit." Darauf wies der Thüringer evangelische Landesbischof Roland Hoffmann im Rahmen des Forums "Freiheit und Sicherheit. Ein Thema der Verkündigung" hin. Freiheit und Sicherheit seien "eine Glaubensfrage". Sie müßten "von Gott her angenommen werden", so der Theologe. Die Kirche habe eine Botschaft, die sie in die Gesellschaft hineinzubringen habe. Die vier gesellschaftlichen Bereiche Politik, Wirtschaft, Kultur/ Wissenschaft und Religion müßten miteinander kommunizieren, seien heute aber oft von einander isoliert. Aufgabe der Kirche sei es, diese Bereiche zu verzahnen.
Der Seelsorgeamtsleiter im Bistum Erfurt, Ordinariatsrat Gerhard Stöber, sieht in der Solidarität ein wichtiges Bindeglied zwischen den vier gesellschaftlichen Bereichen. Sie aufzukündigen bedeute eine Gefahr für die Gesellschaft. Viele Menschen erlebten die Gesellschaft heute kälter als früher. Der Sicherheitsabstand zum anderen werde größer. Stöber: Die neue Einsamkeit hat explosiv zugenommen. Sie ist ein Ergebnis der Angst. Er wisse aus vielen Gesprächen, daß die Angst vor dem, was vielleicht kommen kann, größer sei als die reale Bedrohung, so der Domkapitular. Dem sei entgegenzuhalten: Wenn die Grundbezüge eines Menschen stimmen, weiß er sich sicher. Wo der Mensch seine Beziehung zum anderen geklärt hat, erfährt er Freiheit in der Bindung. Rat Stöber: "Freiheit, die aus dem Herzen kommt, gibt Sicherheit."
Weitere Foren befaßten sich mit Erwartungen und Möglichkeiten hinsichtlich von Freiheit und Sicherheit im kommunalen Bereich sowie auf Landesebene. Einigkeit bestand unter den Teilnehmern darüber, daß Christen in politischer Verantwortung mehr tun können und müssen, um Menschen Ängste zu nehmen und um ihnen ein größeres Sicherheitsgefühl zu geben.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 23.03.1997