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Sakrales im Museum

Der Kunstschriftsteller Johann Gottlieb von Quandt glaubte seinen Augen nicht zu trauen: Als er mit Mitarbeitern den Dachboden der Leipziger Nikolai-Kirche durchstreifte, entdeckte er Tafelgemälde aus dem 16. und 15. Jahrhundert. Einst hatten sie der religiösen Erbauung gedient, jetzt waren sie als Holztafeln eingebaut in einen Taubenschlag

Das war im Jahr 1815. Für die wertvollen Gemälde war diese Entdeckung ihre Rettung. Sie kamen später ins Leipziger Städtische Museum. Als Quandt seinen Freund Goethe in Weimar von dem Fund informierte, publizierte dieser ihn enthusiastisch. "Diese Ereignisse wurden zur Initialzündung für die Wiederentdeckung der christlichen Kunst des Mittelalters", erklärt Dr. Jan Nikolaisen vom Museum der Bildenden Künste in Leipzig. Dort wird zum Kirchentag im Juni eine Ausstellung mit Gemälden eröffnet, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts gerade noch vor dem Verderben gerettet wurden

Die Gründe für das 19. Jahrhundert, die christliche Kunst des Mittelalters wiederzuentdecken, waren nicht unbedingt religiöser Natur: Nach dem Sieg über Napoleon erwachte in verschiedenen Schichten der deutschen Bevölkerung Geschichts- und Nationalbewußtsein. Damit verbunden war die Vergewisserung der eigenen Kultur. Während der Aufklärung und des Barock sind viele mittelalterliche Altäre und Gemälde aus den Kirchen entfernt worden. Diese Epochen suchten ihren religiösen Ausdruck in eigenen Stilen, der symbolische Stil des Mittelalters wurde als altmodisch angesehen. Den Bemühungen des 19. Jahrhunderts haben wir zu verdanken, daß heute in zahlreichen Museen und Galerien diese christliche Kunst zu betrachten ist

"Das Interesse an diesen Dingen wächst", beobachtet Nikolaisen. "Man könnte ja meinen, in Zeiten abnehmender Bibelkenntnis würde es abnehmen, aber das Gegenteil ist der Fall." Ein Grund dafür könne die Schulung der Sehgewohnheiten an moderner, abstrakter Kunst sein. "Es gibt da ja verblüffende Zusammenhänge zwischen der mittelalterlichen und der abstrakten Kunst", so Nikolaisen. Beide suchen nicht die realistische Abbildung, sondern komponieren Bilder, die sich nur dem erschließen, der ihre Symbolik versteht

"Sehen Sie zum Beispiel hier die Darstellung der Pflanzen bei der ,Heimsuchung' von Rogier van der Weiden. Sie sind sehr realistisch, detailgetreu gemalt. Aber sie finden sich an dieser Stelle, weil sie für die Menschen dieser Zeit eine Beziehung zu Maria hatten, auch in liturgischen Feiern an Marienfesten eine Rolle spielten." Weitere Gemeinsamkeit: Beide Stile malen die Größenverhältnisse in einer Bedeutungsperspektive: Wichtige Dinge werden auch groß dargestellt

Für Nikolaisen ist klar: "Die Bilder der beiden Stile müssen den meisten Menschen heute erklärt werden, damit sie verstanden werden." Eine Aufgabe, der sich die meisten Museen heute stellen, meint Nikolaisen. "Es gehört zu einer guten Führung dazu, daß diese Erklärungen, die man ja nicht mit Zetteln an die Bilder kleben kann, im Gespräch gegeben werden - auch was die religiösen Inhalte angeht. Und wir erleben immer wieder, daß Leute bei diesen Führungen nicht nur erstaunt, sondern auch erfreut sind, wenn ihnen die tieferen Hintergründe, auch die Glaubenshintergründe dieser Bilder erklärt werden, weil sie uns ja einen ganz anderen geistigen Kosmos eröffnen.

Stephan Radig

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 13 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 30.03.1997

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