Musik ist die Brücke ins Unfaßbare
Vorgestellt - Kirchenmusiker Kurt Glaßl
Die Kirche und ihre Zukunft läßt Kirchenmusiker Kurt Glaßl aus Leipzig-Lindenau nicht kalt: Im Gegenteil, an Ruhe und Schonung denkt der gerade 75 gewordene kaum. Tag für Tag kommt er ins Pfarrhaus - zugleich Sitz des Leipziger Oratoriums -, spielt eine Stunde Orgel, trifft sich mit den Oratorianern. Kurt Glaßl hat die Kirchenmusik an der Gemeinde im Leipziger Westen noch immer voll im Griff. Dabei sah es noch vor zehn Jahren anders aus, mit dem Ruhestand sollte Schluß sein. Doch die Jugend holte ihren einstigen Kantor zurück und die Arbeit begann von neuem. Seither allerdings völlig ehrenamtlich
Kurt Glaßl wurde am 3. April 1922 im vogtländischen Markneukirchen geboren. Bereits mit 12 Jahren spielte er in den Gottesdiensten die Orgel. Doch noch entscheidender für seinen Lebensweg war die Zeit als Militärmusiker in Regensburg. "Dort habe ich von früh am Morgen bis in die Nacht Musik gemacht", erzählt Kurt Glaßl. Beim Wort "Nacht" lächelt er verschmitzt und sagt: "Ein viertel Jahr war ich in der Nachtbar Alleinunterhalter, da habe ich gespürt, welche Macht die Musik hat, ich entschied wie sich die Menschen in der Bar benehmen, ob sie ausgelassen oder still sind..." Dieses Wissen um die Macht der Musik ließ ihn nicht wieder los. Kurt Glaßl: "Gerade deshalb wird mir immer wieder klar, wie wichtig die musikalische Gestaltung für einen Gottesdienst ist.
Regensburg war nach der Gefangenschaft noch einmal Station auf dem Weg zum Kirchenmusiker. "Ich wollte an der dortigen Kirchenmusikschule studieren, doch die Gesundheit spielte nicht mit, es kam zum Zusammenbruch." Sein Studium holte er von 1948 bis 52 in Westberlin nach. Und in den siebziger Jahren nahm der Lindenauer Kantor dann Unterricht beim Leiter der Dresdner Tanzsymphoniker Günter Hörig
Seine erste Anstellung als Kirchenmusiker war Markneukirchen. Danach war Kurt Glaßl an der Musikschule des Ortes tätig, baute zeitweilig Instrumente, engagierte sich jedoch weiter im kirchlichen Raum. Es war die Zeit in der er mit seinem Motorrad - Marke Jawa - im Vogtland und Erzgebirge unterwegs war, um kleinen Gemeinden bei der kirchenmusikalischen Ausbildung vor Ort zu helfen. Eine feste Stelle nahm er dann in Zwickau an bis er 1962 nach Leipzig-Lindenau ging. Es war eine Zeit in der viel neues in die Kirche kam. Die Liturgie wurde erneuert und damit ergaben sich auf musikalischem Gebiet viele Möglichkeiten. "Ich wollte immer einen lebendigen Gottesdienst, zu dem Kinder und Jugendliche gern kommen und nicht von Oma oder Mutter an den Haaren herbeigezogen werden." Kurt Glaßl gehört zu denen, die sich früh für Kinder und Jugendchöre stark machten. Beide gab es in Leipzig-Lindenau schon ab 1966. Doch davon waren in der Kirche nicht alle begeistert. Die ersten Lieder für Kinder, die Kurt Glaßl unter dem Titel "Ihr Kinder lobet den Herrn" im Benno-Verlag herausgab, durften nicht im Gottesdienst gesungen werden. Auch rhythmisch betonte Musik, die sich an Jazz, Spiritual und anderen nordamerikanischen Musikformen orientierte - bis heute Leidenschaften von Kurt Glaßl - waren zu dieser Zeit als Kirchenmusik verpönt. "Jetzt ist es so, daß sich sogar traditionelle Kirchenmusiker dazu durchgerungen haben und sagen, daß sich der Kantor mit dieser Musik beschäftigen muß", erzählt Kurt Glaßl. Für ihn persönlich hieß diese Beschäftigung auch Erfolg: Mit dem Musical "Bogabunda" spielte sich die Gemeinde Lindenau und ihr Kantor in die Herzen der Besucher des Katholikentages in Dresden. Durch solche Projekte anzusprechen, das reizt Kurt Glaßl immer noch. "Der Glaube läßt sich nicht allein in Worte fassen, die Musik ist die Brücke ins Unfaßbare", ist ein Gedanke, der immer wieder von Kurt Glaßl zu hören ist
Und daß er mit seinem Denken durchaus unbequem werden kann, weiß er selber: "In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Zahl der Gottesdienstbesucher fast überall um zwei Drittel verringert, wo vorher 1000 waren sind es heute knapp 300 und ich habe das Gefühl, daß sich viele Priester über diese Entwicklung keine ernsthaften Gedanken machen." Der Lindenauer Kantor ist sich sicher, daß auch er dieses Problem nicht lösen kann. Aber er will Anstöße geben, zum Nachdenken anregen. Kurt Glaßl: "Warum fahren die Leute sonstwohin um Meditation zu erleben, können wir nicht Angebote schaffen, die diese Menschen berühren?" Eine Herausforderung, der sich der Lindenauer Kantor weiterhin stellen will. In diesem Sinne kann er auch mit seinen Titel "Kirchenmusikdirektor" gut leben. Kirchenmusikdirektor, das ist für Kurt Glaßl einer, der den "Auftrag hat, anderen zu helfen". Ehrenbezeichnungen findet Kurt Glaßl jedoch unsinnig. Immer wieder ist von ihm eine Geschichte zu hören, die er ironisch zuspitzt: "Ich wollte Ritter vom Goldenen Sporn werden - so etwas soll es tatsächlich noch geben - dann hätte ich einen schönen Hut für Fasching und das Recht, mit dem Pferd in die Kirche einzureiten..." Das, so Kurt Glaßl, sei es nicht, was die Kirche heute braucht. "Mir kommt es manchmal so vor, als wäre Johannes XXIII. vergessen worden", meint er bitter. Dennoch für ihn kein Grund zum Verzweifeln: "Rückschläge und Kontroversen konnten mich nicht verbittern, am eigenen Leben habe ich gespürt, wie Gott hilft. Er führt durch Niederlagen zum Erfolg." Mit Kurt Glaßl muß in der Kirche weiter gerechnet werden, auch über den Ruhestand hinaus.
Holger Jakobi
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 06.04.1997