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Aus der Region

Den Menschen von heute Christus nahebringen

Interview mit dem Heiligenstädter Propst Durstewitz

Im Rahmen der Reihe "Kirche 2000" plädiert heute der Heiligenstädter Propst Heinz-Josef Durstewitz für die mutige Abkehr von offensichtlich überholten kirchlichen Formen und Praktiken. Die Kirche müsse den Menschen stärker als bisher bei der Gestaltung ihres Lebens behilflich sein. Frage: Herr Propst, wie steht es um die katholische Kirche in den neuen Bundesländern

Durstewitz: Im kirchlichen Raum ist es nicht anders wie sonst in der Gesellschaft auch: Wir befinden uns derzeit in einem totalen Umbruch. Und wir haben noch nicht wieder Boden unter den Füßen, der uns trägt

Frage: In welchen Bereichen vollzieht sich dieser Umbruch besonders

Durstewitz: Hier sind sicher etliche Aspekte zu nennen. Lassen Sie mich vor allem auf drei Bereiche eingehen: Zum einen: Die Familie als Keimzelle für eine intakte Gesellschaft fällt heute weithin aus. Immer mehr Ehen scheitern. Die Lebenspartner wechseln. Die Weitergabe von Werten an die nächste Generation ist gestört. Kinder, aber auch die Eltern unterliegen allein schon rein zeitlich Tag für Tag viel mehr fremden als familiären Einflüssen. Das heißt: Auf die Familie können wir heute in Gesellschaft und Kirche nur noch in den wenigsten Fällen setzen

Einen fundamentalen Umbruch erleben wir zweitens in der Arbeitswelt mit dem für so manchen bitteren Problem der Arbeitslosigkeit. Doch an eine Vollbeschäftigung im herkömmlichen Sinne ist wohl kaum noch zu denken. Alternativen der Lebensgestaltung müssen her. Ein drittes Feld, das mir sehr massiv auffällt, ist die Frage der Freiheit. Zu DDR-Zeiten haben sich viele danach gesehnt. Für die Jugendlichen heute ist die Freiheit selbstverständlich. Für sie ist viel stärker die Frage der Sicherheit im Blick: "Die Zukunft ist unsicher. Das bringt ja alles nichts", sagen sie. So breitet sich eine Kultur der Hoffnungslosigkeit aus, die die Freiheit völlig aufzulösen scheint

Frage: Welche Rolle kommt der Kirche angesichts der Umwälzungen zu

Durstewitz: Wir sind gemeinsam mit anderen Verantwortlichen der Gesellschaft gefordert, Ausschau zu halten, wo und wie wir uns als Menschen gegenseitig helfen können, das Leben zu gestalten. Wir dürfen die Menschen bei der grundlegenden Veränderung der Welt nicht wieder im Stich lassen, wie es vor 100 Jahren bei der Industrialisierung passiert ist

Ich glaube, daß künftig für viele Menschen die geistige Welt eine wichtige Rolle spielen wird. Hier sei das Stichwort Computer genannt. Die Produktion von Gütern des täglichen Bedarfs wird von immer weniger Menschen geleistet. Das Geld verliert an Bedeutung, weil jedem etwas für seinen Unterhalt zugeteilt werden muß. Kirchliche Elitetruppen wie die Orden haben nie auf Produktivität und Konsum, sondern immer auf Geistiges gesetzt. Damit kann man glücklich werden. Hier haben wir als Kirche also Erfahrungen und könnten eine Vorreiterrolle einnehmen.

Frage: Die Kirche sollte also den Menschen bei der Ausgestaltung ihres Lebens helfen, da der Erwerbsarbeit zunehmend nicht mehr die zentrale Rolle zukommt, die sie bisher hatte

Durstewitz: Genau. Womit beschäftigen wir uns als Menschen in Zukunft, wenn nicht genügend materiell produktive Arbeit vorhanden ist? Und wie tun wir etwas so, daß Mitmenschen sich für das, was ich anbieten kann, interessieren, daß wir also mit unseren Mitmenschen darüber in Kontakt trete

können? Denn wir brauchen als Menschen einander für unser eigenes Selbstwertgefühl. Wenn neben der fehlenden materiell produktiven Arbeit außerdem auch die familiäre Wertschätzung immer mehr irrelevant wird, da die Familien nicht mehr die gewohnte Rolle übernehmen, muß in dieser Hinsicht dringend etwas geschehen. Wenn es nicht gelingt, auf unterschiedlichste Weise mitmenschliche Beziehungen zu pflegen, werden radikale extreme Gruppierungen den Leuten mit idiotischen Ideen Selbstbewußtsein vermitteln. Das heißt, das ist auch eine Frage der Demokratie und der menschlichen Zukunft, also keine Randfrage

Frage: Sie sprachen vorhin auch einen Umbruch im Umgang mit der Freiheit an? Welche Aufgaben sehen sie in dieser Hinsicht für Christen

Durstewitz: Wir sind gefordert, den Wert der Freiheit aufzuzeigen, also zu verdeutlichen: Freiheit heißt: Wir haben es gemeinsam in der Hand, in Freiheit das Leben zu gestalten und die gegebenen Möglichkeiten verantwortungsvoll zu nutzen. Und diese Frage geht bis in die Kirche hinein: Wir können nicht mehr gängeln. Wir können nichts mehr vorgeben. Überhaupt nichts mehr. Sondern nur noch einladen. Das heißt auch, wir müssen als Kirche sehr viel genauer nach der Lebenssituation der Menschen fragen

Frage: Was hindert jetzt daran

Durstewitz: Die Bedingungen, die wir gegenwärtig als Kirche vorfinden, sind meines Erachtens denkbar ungünstig für unser Bistum und die Kirche in den neuen Bundesländern. Denn wir müßten jetzt spezialisiertere Leute haben. Massenveranstaltungen wie zum Beispiel Gemeindegottesdienste reichen nicht aus. Wir müssen uns ganz stark auf den einzelnen einstellen. Die individuellen Feiern nehmen heute einen hohen Platz in der Kirche ein. Die Silberhochzeiten etwa. Aber das gilt auch für die Gesellschaft, etwa für die hohe Zahl der Jugendweihefeiern. Denn es gibt die berechtigte Sehnsucht der Menschen, wenigstens zwei- oder dreimal im Leben wirklich "Ich" sein zu dürfen und in der Mitte zu stehen. Und dieses Anliegen sollten wir kirchlicherseits mit viel Engagement stützen. Das wird aber desto schwieriger, je weniger Leute in der Kirche zur Verfügung stehen. Und es ist derzeit auch eine Geldfrage. Hinzu kommt: Die ostdeutschen Bistümer können von ihrer Struktur her diesen Problemen nicht gerecht werden

Frage: Sie halten die kirchlichen Strukturen hierzulande für die Erfordernisse der Seelsorge für nicht geeignet

Durstewitz: Richtig. Nötig wäre eine zentrale große Verwaltungseinheit etwa im Bereich der neuen Bundesländer und möglichst viele kleine Seelsorgeeinheiten. Doch das Gegenteil geschieht. Die Bistümer sind kleiner geworden, die Pfarreien werden immer größer. Ich glaube nicht, daß die jetzige Struktur der Diözesen den Problemen der Gegenwart gerecht wird. Sie sind planungsmäßig, wirtschaftlich, personell viel zu klein. Sie haben kaum Fachleute, können sie sich auch nicht leisten. So ist Improvisieren angesagt

Hinzu kommt: Das Priesterbild des Konzils von Trient, wie wir es noch heute haben, hat ausgedient. Etwa die Auffassung: Jedes Dorf braucht einen geweihten Hochschulabsolventen als Seelsorger. Es gehört auch künftig dringend dazu, daß die Sakramente gespendet werden. Aber wenn es nicht genügend Priester gibt ..

Frage: Welche Möglichkeiten sehen Sie

Durstewitz: Wenn es stimmt, daß die Kirche im Namen Jesu für die Menschen da ist oder aber keinen Sinn hat, müssen wir uns auf die Menschen einstellen, wie das die Kirche immer getan hat. Wenn es also nicht genug Priester gibt, dann muß sich eine Gemeinde einen bewährten Mann wählen, der den priesterlichen Dienst ehrenamtlich leistet oder halbtags. Entscheidend ist, daß die Aufgabe erfüllt wird

Oder wenn immer mehr Ehen nur noch kurze Zeit halten, weil die Partner schon in ihrer Kindheit nur lockere, wechselnde Bindungen erlebt haben, dann müssen wir Wege finden, die wiederverheirateten Geschiedenen den Weg zu den Sakramenten ebnen. Die uns nahestehende orthodoxe Kirche kennt ja auch die Möglichkeit, daß Geschiedene, wenn sie eine neue Partnerschaft eingehen, gesegnet werden und zur Kommunion gehen können

Und es ist höchste Zeit für die volle Abendmahlsgemeinschaft unter den Christen

Frage: Es heißt immer wieder, auch die Menschen hier im Osten seien nicht areligiös, suchten nach Sinn ..

Durstewitz: Ich habe als Grenzschutzpfarrer vier Jahre lang intensiv mit Menschen gearbeitet, die aus DDR-Zeiten atheistisch geprägt sind. Ich konnte sie nicht fragen: Haben Sie eine religiöse Sehnsucht? Aber ich habe gemerkt, es gibt in ihrem Leben Fragen, auf die sie selbst keine Antwort finden, die sie aber als Problem empfinden

Warum zünden nichtchristliche Offiziere während einer gemeinsamen Fahrt bei der Besichtigung von Kirchen verstohlen Kerzen an, nachdem sie mich gefragt haben, warum dies Menschen in Kirchen tun? - Als Grund für ihr Tun sagen die Offiziere: Das tut mir gut, da kann ich an meine Frau denken, die zu Hause ist. Anrufen allein genügt nicht

Oder: Die gleichen nichtchristlichen Beamten haben an Gottesdiensten teilgenommen und begeistert von der Kirche angebotene Tagungen besucht. Warum? Weil dort auf Fragen zu antworten versucht wird, die anderswo nicht einmal gestellt werden. Da ist von einer Welt die Rede, die das Leben bereichert. Militärpfarrer oder Polizeiseelsorger erleben Vergleichbares. Die Kirche müßte viel mehr Leute in diese Bereiche schicken können, in denen es kaum oder gar keine Christen gibt. Da werden die Kostbarkeiten unseres Glaubens erst richtig deutlich

Frage: Das aber scheitert an der geringen Zahl hauptamtlicher Seelsorger? Oder denken Sie, daß die Kirche im Einsatz ihrer Mitarbeiter andere Schwerpunkte setzen sollte

Durstewitz: Ein Dorf braucht einen einfühlsamen und im guten Sinne frommen Seelsorger, der die Situation kennt und für vielleicht 100 Leute da ist. Das könnte aber durchaus eine Frau oder ein Mann aus der Gemeinde sein. Für die Bereiche, von denen ich aber eben gesprochen habe - dazu gehört übrigens auch die Tourismusseelsorge -brauchen wir Spezialisten. Sie müssen theologisch, kunsthistorisch, anthropologisch gebildet sein. Das kann nicht jeder. Aber dieser Einsatz würde sich lohnen. Die Tourismus-Seelsorge am Erfurter Dom beispielsweise bewirkt mehr als so manche traditionelle Art der Seelsorge. Sie erreicht Menschen

Für die heutigen Menschen ist nicht das Sterben so sehr das Problem, sondern das Leben: Wie kann ich leben? Bin ich etwas wert oder bin ich ein Nichts? Hier sind wir als Kirche gefordert. Im Römerbrief heißt es: Die ganze Schöpfung seufzt und wartet auf das Erscheinen der Kinder Gottes. Und im Markus-Evangelium: Geht zu allen Geschöpfen. Antworten auf die Fragen werden wir den Menschen allerdings nicht in den klassischen religiösen Begriffen geben können

Frage: Sollte die Kirche Nichtchristen in Vorfeldern des Glaubens etwas anbieten

Durstewitz: Es gibt kein Vorfeld. Wir machen im Eichsfeld derzeit einen Versuch: Eine Ordensschwester sammelt auf den Dörfern Jugendliche unabhängig vom Taufschein. Ihre Bude ist voll. Aber wir fragen ängstlich: Ist das religiöse Arbeit? Diese Frage ist falsch! Es ist unser Auftrag, für die Menschen dazusein. Wir sind zu sehr von traditionellen Vorstellungen gefangen. Die alten Dinge greifen aber oft nicht mehr. Ein Beispiel: Als im 16. Jahrhundert auf dem Trienter Konzil über die Sakramente nachgedacht wurde, war klar, daß der Friedensgruß ein Sakrament sein sollte, die Ehe aber nicht. In der Abstimmung wurde dann allerdings - sicher aus guten Gründen -die Ehe Sakrament. Der Friedensgruß erfüllt jedoch weitmehr die Kriterien für ein Sakrament und ist heute ein Quasi-Sakrament, so wichtig ist er den Menschen

Frage: Könnten Sie sich vorstellen, daß die Kirche Nichtchristen Formen beispielsweise für die Feier der Geburt eines Kindes oder des Erwachsenwerdens anbietet

Durstewitz: Das wäre sicher im Sinne Jesu. Nehmen wir die Jugendweihe. Keine Gesellschaft kommt ohne Initiationsriten aus. Als Kirche sollten wir helfen, daß Menschen einen solchen Höhepunkt in ihrem Leben auch menschenwürdig feiern können. Deshalb sollten wir durchaus den Mut haben, auch mit den Veranstaltern von Jugendweihefeiern darüber zu sprechen

Menschen wenden sich in solchen Anliegen ja sogar an die Kirche: Zu mir kommen Mitglieder von Schützenvereinen. Obwohl diesen Vereinen viele Nichtchristen angehören, wollen sie, daß ich eine Segnung vornehme oder einen Gottesdienst halte. Ich gehe hin, und bin froh, wenn in diesen Vereinen Christen mitmachen. Denn es geht da nicht nur um Schießen, sondern um Kultur und Kult. Kirche muß dort sein, wo sie Menschen zur Freude, zur Tröstung, zu mehr Sinn, zu Stil verhelfen kann

Frage: Kritiker werden sagen: Mit einer solch liberalen Praxis geht doch das eigentlich Christliche verloren..

Durstewitz: Was ist denn das "eigentlich Christliche". Für mich ist es die sonntägliche Versammlung zum Herrenmahl. Und das "Ite missa est" am Ende, die Sendung. Im Mahl gedenken wir Christi Tod und Auferstehung. Und dann sollen wir Christus in die Welt bringen, und zwar so, daß er als Gewinn, als der Heiland angenommen werden kann.

Interview: Eckhard Pohl

Heinz-Josef Durstewitz (52) war nach sieben Jahren Studentenseelsorge in Jena ab 1982 Sekretär der Pastoralkonferenz bei der Berliner Bischofskonferenz. Unter seiner Regie erschien das Theologische Bulletin, in dem Beiträge zu Theologie, Philosophie, Sozialwissenschaften zusammengestellt wurden. Von 1991 bis 1995 Oberpfarrer beim Bundesgrenzschutz in Berlin. Seit 1995 Bischöflicher Kommissarius für das Eichsfeld und Propst von Heiligenstadt. Nichtresidierender Domkapitular und Ordinariatsrat der Diözese Erfurt.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 15 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 13.04.1997

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