Jetzt 4 Wochen kostenfrei Tag des Herrn lesen!
Bistum Dresden-Meißen

Wenn Kinder Kinder kriegen

Zufluchtstätte für junge Frauen in Not

Leipzig (fun) - Ein Plakat mit bunten Handabdrucken und Namen hängt neben der Eingangstür im zweiten Stock der Leipziger Elsterstraße 12. Mütter und Kinder, die hier im Agnesheim wohnen, haben sich so verewigt

Im Flur belebt fröhliches Kindergeschrei die Atmosphäre. Kleinkinder rennen herum, schlittern die auf dem Gang aufgebaute Rutsche herunter. "Ihren Kindern wollen die Mädchen die Liebe geben, die sie nie bekommen haben", erzählt Susanne Richter (33), Sozialarbeiterin und Leiterin des Mutter- und Kindheims. Zur Zeit leben hier zwei junge Mädchen, die sich in "sozialer Notlage" befinden und nicht in ein geschlechtlich gemischtes Heim wollten und sechs Mütter mit ihren Kindern

Darunter ist auch Anna (Name von der Redaktion geändert), die hier im Agnesheim ein neues Zuhause fand. Ihr Zimmer hat sie selbst rosa gestrichen. Wickeltisch und Bettchen stehen schon bereit. Mit 14 ist sie schwanger geworden. Jetzt steht sie kurz vor der Entbindung. "Mit sechs Jahren bin ich zum ersten Mal in ein Heim gekommen", erzählt sie. Anna hat es nirgendwo lange ausgehalten. Doch seit sie im Agnesheim wohnt, hat sich in ihrem Leben etwas verändert. "Hier fühle ich mich wohl." Die Hände hat sie stolz um ihren Bauch geschlungen. Auch wenn sie noch hochschwanger ständig unterwegs ist, kommt sie immer wieder zurück

Das Agnesheim wird vom Ortscaritasverband Leipzig getragen. Die 14 Plätze, die vergeben werden können, sind zur Zeit alle belegt. "Der Altersdurchschnitt der Mädchen liegt bei 15 Jahren", erzählt Susanne Richter, die von den Mädchen "Sanni" genannt wird

Sie erklärt die Situation der Mädchen: "Viele von ihnen haben mit psychischen Problemen zu kämpfen. Daß die Eltern Alkoholiker sind, ist eher noch der harmloseste Grund", berichtet sie sarkastisch. "Ungefähr 70 Prozent der Mädchen, die hier leben, sind sexuell mißbraucht worden.

Außerdem hätten fast alle Mädchen Schwierigkeiten mit Männern. "Sie suchen Liebe und werden ausgenutzt; dann sind sie schwanger", erzählt die Sozialarbeiterin. In der ersten Zeit freuen sie sich auch auf ihr Kind, aber bald kommen sie mit ihrer Situation nicht mehr richtig klar. Sie sehen die Probleme, die ein Kind macht, anfangs nicht. "Es seien eben auch Teenager, mit den typischen Problemen. - Aber mit doppelter Belastung. Eben Kinder, die Kinder bekommen.

Gegründet wurde das Agnesheim 1921 von Agnes Neuhaus; sie kümmerte sich in dieser schwierigen Zeit um die sogenannten "Bayernmädel", die sich auf dem Leipziger Bahnhof prostituierten. Oft weil ihre Hoffnungen von einem besseren Leben in der Großstadt unerfüllt blieben

Heute kümmern sich im Agnesheim drei Erzieher und zwei Sozialpädagogen um "Mütter und Kinder sowie sozial gefährdete weibliche Jugendliche" - wie es amtsdeutsch heißt. "In den meisten Fällen werden die Mädchen durch das Jugendamt hierher verwiesen", erzählt Susanne Richter. Der Aufnahme geht ein "Vorstellungsgespräch" - wie die Mädchen es nennen - voraus. Dabei können sie selbst entscheiden, ob sie hier leben wollen; aber auch die Mitarbeiter können prüfen, ob die jungen Frauen in das Heim passen

Über den Inhalt ihrer Arbeit erzählt Susanne Richter: "Das Wichtigste ist es, dafür zu sorgen, daß die jungen Mütter mit ihren Kindern klarkommen". Sie müssen allein einkaufen, die Wäsche waschen und kochen. "Wir unterstützen sie dabei und helfen ihnen auch bei bürokratischen Angelegenheiten.

Außerdem bekommen sie ein altersabhängiges Taschengeld, Bekleidungsgeld und - wenn sie ein Kind haben - Erziehungsgeld. "Wir versuchen die Mädchen zu überzeugen, dieses Geld zu sparen, damit sie einen guten Start haben, wenn sie hier weggehen", berichtet die 33jährige

Fast alle jungen Frauen verlassen das Heim mit 18 Jahren; nachdem sie in der Regel eine Lehre beendet haben. Doch auch nach ihrem Weggang bleiben sie nicht ohne Hilfe. Eine Nachbetreuung durch sozialpädagogische Fachkräfte unterstützt sie bei ihrem "neuen Leben". Konkret bedeutet dies Hilfe bei Wohnungsbeschaffung, Gänge zum Sozialamt und vieles mehr. "Und viele von ihnen besuchen uns noch lange nach ihrem Auszug hier", erzählt die Leiterin nicht ohne Stolz

Viele werden jedoch wieder schwanger. "Warum sie nichts gelernt haben, können wir nicht verstehen", beschreibt sie ihre jahrelangen Erfahrungen. "Ich bin oftmals bei den Problemen der Mädchen überfordert und ein Patentrezept gibt es sowieso nicht. Aber sie wissen, daß sie mit jedem Problem zu mir kommen können und daran auch Anteil genommen wird. Das bringt mit der Zeit Vertrauen.

Dennoch müssen die Erzieher und Sozialpädagogen im Agnesheim immer wieder von vorn anfangen. "Man sieht hier eben nicht so ein Ergebnis wie beispielsweise ein Tischler, der seinen Tisch fertiggestellt hat."

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 15 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 13.04.1997

Aktuelle Empfehlung

Der TAG DES HERRN als E-Paper - Jetzt entdecken!

Aktuelle Buchtipps