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Bistum Magdeburg

Jüdische Opfer brechen ihr Schweigen

Forschungsprojekt über KZ-Außenlager Salzwedel

Salzwedel - Hunger, Erniedrigungen, Sklavenarbeit, Schläge und Stacheldraht. So erlebten sie Salzwedel in den Jahren 1944/45 - etwa 1500 jüdische Frauen, die in einem Außenlager des KZ Neuengamme in der Salzwedeler Drahtfabrik rund um die Uhr Infanteriemunition für die deutsche Wehrmacht herstellen mußten. Jüdinnen aus Polen und Ungarn, vor allem, aber auch Deutsche, Griechinnen, Italienerinnen, Tschechinnen und Niederländerinnen waren darunter. Ein Gedenkstein am Rande des Lagergeländes erinnert daran

Bis Einzelheiten der Geschehnisse von damals an die Öffentlichkeit drangen, brauchte es nahezu fünf Jahrzehnte. Der staatlich diktierte Antifaschismus der DDR brachte kaum mehr als oberflächliches Gedenken und Lippenbekenntnisse hervor. Die wirklichen Opfer blieben anonym. Erst im vereinten Deutschland begannen die Stadt und die Salzwedeler Museen damit, Fragmente dieses dunklen Kapitels Salzwedeler Zeitgeschichte zusammenzutragen und aufzuarbeiten

Den Anstoß zu dem Forschungsprojekt gaben die Aussagen von in Salzwedel inhaftierten Frauen, erinnert Museumsdirektor Ulrich Kalmbach. 50 Jahre nach dem Grauen folgte am 29. April 1995 eine Gedenkveranstaltung, an der erstmals auch Überlebende an den Ort ihrer Qualen zurückkehrten. Salzwedels Bürgermeister Siegfried Schneider erlebte dieses Treffen als "zutiefst erschütternd". Um die Möglichkeit des Wiedersehens und Erinnerns auch anderen ehemaligen Häftlingsfrauen zu geben, lud die Stadt im Juni 1996 zu einem Häftlingstreffen ein

Die Ereignisse des Treffens und die Ergebnisse der Forschungen um das KZ-Außenlager Salzwedel liegen jetzt in einer 58 Seiten umfassenden Dokumentation vor, die gegen einen Unkostenbeitrag von 5 Mark in den Salzwedeler Museen zu haben ist. Die ersten Exemplare gingen an die Gäste des Häftlingstreffens nach Israel, den USA, England, Kanada und Schweden

"In den Gesprächen bekamen wir erstmals eine Ahnung davon, was damals wirklich passiert ist", sagen Ulrich Kalmbach und Sabine Spangenberg, die beide am Forschungsprojekt mitarbeiten. Mehrere Betroffene hätten erzählt, daß man ihren Berichten über die Geschehnisse in den KZ nach dem Krieg einfach nicht geglaubt hätte. "Sie galten bis zum Eichmann-Prozeß als irre, selbst in Israel, und schwiegen deshalb jahrzehntelang." Beim Wiedersehen in Salzwedel trafen sie endlich Menschen, die ihre leidvollen Erfahrungen bestätigten

Uwe Harms zum Beispiel erzählte, wie der als Sechsjähriger mit Freunden eine Gruppe von zerlumpten und von Soldaten bewachten Frauen mit Kartoffeln und Dreckklumpen bewarf. Seine Mutter ermahnte ihn: "Tu das nie wieder. Das sind Menschen wie wir." Feigheit und Scham benannte Harms beim Namen. Zwei Frauen fielen sich in die Arme. Eine Salzwedelerin, die in der Drahtfabrik dienstverpflichtet war, traf das Häftlingsmädel wieder, mit dem sie zu arbeiten hatte, nach 51 Jahren

Zu den Überlebenden, die in Salzwedel waren, gehört auch Kitty Hart-Moxon. Am 9. April wurde in der Kreisbibliothek Gardelegen das Dokumentarvideo "Kitty" in deutscher Übersetzung erstmals öffentlich aufgeführt. Das war unter anderem der finanziellen Unterstützung der jüdischen Familie Sonnenfeldt aus Gardelegen zu verdanken

Der Film, in dem die 50jährige Überlebende mit ihrem Sohn durch das ehemalige Lager Auschwitz-Birkenau wandert, wendet sich ebenso wie die Dokumentation der Stadt Salzwedel gegen Gleichgültigkeit und Abstumpfung. Beide mahnen zu bedenken, daß der Holocaust nicht sechs Millionen ermordeter Juden bedeutet. Es war Einer, und Einer, und Einer..

Christel Schwerin

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 15 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 13.04.1997

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