Bürgersinn statt Nischenmentalität
Katholische Akademie Erfurt
Erfurt (ep) - "Wir stehen als Gesellschaft vor einer zivilisatorischen Grundentscheidung: Wollen wir eine Kultur der Freiheit und des Bürgers oder eine Gemeinschaft, in der daran geglaubt wird, daß das Glück für alle von denen oben geschaffe werde." Mit dieser Aussage konfrontierte der Berliner evangelische Theologe und Soziologe Ehrhart Neubert rund 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Veranstaltung zum Thema "Nostalgie der Nische oder Chancen einer Bürgergesellschaft". Zu der Diskussion, die sich mit Ursachen für den wieder zu beobachtenden Rückzug in die Nische befassen und Aufgaben der Medien, der Schule, Kultur, Politik und Kirche bei der Herausbildung von Bürgerbewußtsein aufzeigen sollte, hatte die Akademie des Bistums Erfurt in die Bildungsstätte "St. Martin" eingeladen
Der Bildung, besonders auch der politischen Bildung, kommt eine zentrale Aufgabe zu, dabei sind auch die Kirchen gefordert. Darüber bestand weithin Einigkeit unter den Anwesenden. Angesichts der sich ausprägenden Informationsgesellschaft werde "die soziale Frage der Zukunft die Bildungsfrage" sein, so Ehrhart Neubert. Bildungsangebote würden dann von Menschen unterschiedlichster geistiger Herkunft akzeptiert, wenn sie nicht vereinnahmen wollten, meinte Ines-Maria Köllner, die in Leipzig in der Bildungsarbeit tätig ist
Die Unzufriedenheit unter den Menschen der neuen Länder und der daraus resultierende Rückzug aus der Gesellschaft sei nicht in erster Linie bei Arbeitslosen, sondern bei Lehrern, bei Angestellten, bei Polizisten anzutreffen, so Ehrhart Neubert. Dies mache deutlich, daß es dabei vor allem um ein "mentales" (geistiges) und nicht um ein wirtschaftliches Problem gehe. Die Menschen der neuen Länder seien durch die Wende in ihrer "Biografie-Planung", in puncto Arbeit, bezüglich ihres Selbstverständnisses erschüttert worden. Folge unbewältigter Erschütterungen sei die Rückorientierung auf die Vergangenheit
Heute sind Instanzen nötig, "die glaubwürdig ethische Grundlagen vermitteln" und verständlich machen können, daß der Ethik eine schöpferische Dimension zukommt, die vor dem Politischen und Sozialen liegt, so Neubert. Er frage die Kirchen, ob sie diese Ethik anbieten können oder ob sie wie andere auch "zu sehr nach der total geordneten und konfliktlosen Gesellschaft suchen" und nicht in der Lage sind, Konflikte und deren Austragung als Gestaltungselement für die Gesellschaft anzunehmen. Leider würden Kirche und Religion von vielen Menschen als gesellschaftlicher "Sonderbereich" betrachtet. "Wenn es den Kirchen nicht gelingt, sich auf die Gesellschaft hin zu öffnen, ist der Abmarsch in die Sekte vorprogrammiert", so Neubert. Christen hätten zum Beispiel insofern einen "wichtigen Platz" auszufüllen, als sie vor einer Selbstüberforderung der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft zu warnen und auf eine gewisse Vorläufigkeit dieses Lebens hinzuweisen hätten
Angesichts der vielfältigen Schwierigkeiten des heutigen Umbruchs sei nicht der Rückzug in die Nische, sondern Einmischung nötig, ermunterte die Dresdener MDR-Redakteurin Claudia Nothelle. Auch die Leinefelder Kommunalpolitikerin Maria Krause forderte dazu auf, nicht zu lamentieren, was alles nicht zu verändern sei, sondern die politischen Gestaltungsmöglichkeiten zu ergreifen, die sich etwa auf kommunaler Ebene böten. Den hohen moralischen Anspruch, den heute Ostdeutsche angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen in Anspruch nähmen und der ihnen gelegentlich vorgeworfen werde, sollten sie unbeirrt beibehalten. Ines-Maria Köllner stellte die für das Funktionieren von Demokratie notwendige und erlernbare Fähigkeit heraus, "Ich"-sagen zu können. Frau Köllner berichtete von dahingehenden Lern-Projekten für ältere Arbeitslose
Auch Schulleiter Udo Haschke aus Jena berichtete über Initiativen, die die Heranbildung mündiger Bürger beförderten. Zugleich räumte er mangelnde Bereitschaft vieler ostdeutscher Lehrer ein, sich mit der unmittelbaren deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Diese "intellektuelle Auseinandersetzung unter Einbeziehung der eigenen Vita" sei dringend erforderlich, müsse aber "sehr schonend erfolgen", da sie schmerzlich sei, so der Schulleiter
Eine Zuhörerin beklagte fehlende Visionen. Sie warf den Intellektuellen in Ost und West vor, die Menschen im Stich zu lassen und fragte, inwieweit die Demokratie ohne Christentum bestehen könne. Ein anderer Teilnehmer beklagte "eine entsetzliche Reformunfähigkeit der alten Bundesrepublik". Ines-Maria Köllner sprach von einem "verkrusteten Eindruck", den die alte Bundesrepublik mache, "in der alles auf Besitzstandswahrung aus" sei und die "nicht die Realitäten im Auge habe".
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 20.04.1997