Herausforderung deutsches Neuland
Buchbesprechung
Berlin - Die andauernde Diskussion um das Brandenburger LER-Modell und der Streit um das Kruzifix-Urteil machen es deutlich: das Verhältnis von Staat und Kirche ist im vereinigten Deutschland Belastungsproben ausgesetzt
Im Osten ist die Religionspolitik der SED - begleitet von 40 Jahren antireligiöser Erziehung in den Schulen - inzwischen abgelöst, was mit Staatskirchenverträgen besiegelt wurde oder noch wird. Das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft ist hier in Bewegung gekommen. Ein Teil des deutschen Neulands, das erst noch bestellt werden muß
Angesichts dieser Herausforderung versucht der Herausgeber des kürzlich im Leipziger Benno-Verlag erschienenen Sammelbandes "Deutsches Neuland" aufzuzeigen, daß der weltanschaulich neutrale Staat sittliche Grundhaltungen in der Gemeinschaft braucht, die er nicht selbst erzeugen kann. Um die "schwierige Freiheit" zu bewältigen, bleibe die "Prägekraft der christlichen Kirchen" in Ost und West von wesentlicher Bedeutung, meint Thomas Brose
Mit Fleiß hat er von fast 30 Wissenschaftlern, Politikern, Künstlern und Vertretern beider Kirchen Beiträge zusammengetragen, in denen Hintergründe beleuchtet, persönliche Erfahrungen mitgeteilt und heutige Herausforderungen benannt werden. Dabei steht im Mittelpunkt des Bandes das Verhältnis von Gesellschaft und Religion vor und nach der Wende in der DDR
Mit dem Zusammenhang von Freiheit und Vergangenheit beschäftigen sich mehrere namhafte Autoren. So macht der SPD-Spitzenpolitiker Wolfgang Thierse deutlich, daß ein freies und gleichberechtigtes Miteinander der Deutschen eng mit der Annahme der eigenen Vergangenheit verbunden ist. "Für versuchten Selbstbetrug" hält er es deshalb, einen Schlußstrich unter DDR-Unrecht zu ziehen. Die Politologin Gesine Schwan weist darauf hin, daß es politische Schuld nicht nur im Osten, sondern im subtilerer Form auch im Westen gab
Die ökumenisch ausgewogene Publikation beleuchtet unterschiedliche Dimensionen der gemeinsam-geteilten deutschen Wirklichkeit. Zu Staat und Evangelischer Kirche in der DDR äußert sich der evangelische Theologe Richard Schröder, einschließlich des umstrittenen Begriffs "Kirche im Sozialismus"
Lesenswert sind auch die Gedanken des Bürgerrechtlers Jens Reich zur Maueröffnung am 9. November 1989. Brandenburgs Kulturminister Steffen Reiche beklagt, daß "Gemeinwohl, Toleranz, Solidarität und Teilhabe" im vereinten Deutschland auf der Strecke zu bleiben drohen. Dies sei eine Herausforderung für die Kirchen
Mit dem Kirchenasyl befaßt sich der Berliner Kardinal Sterzinsky. Er betont, daß es dabei um den "Schutz der Menschenwürde" geht, "nicht um ein kirchliches Engagement gegen den Staat"
Alles in allem ein Buch, das zum Nachdenken anregt über das eigene Verhalten in Vergangenheit und Zukunft
Reiner Cimbolle
Deutsches Neuland. Beiträge aus Religion und Gesellschaft. Herausgeber Thomas Brose. 340 Seiten, Broschur, Benno-Verlag Leipzig, 29,80 Mark
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 20.04.1997