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Aus der Region

Liberale Eltern haben mehr von ihren Kindern

Familienbund der Deutschen Katholiken zur Zukunft der Familie

Zur Zeit des Ersten Weltkrieges konnte ein Vater damit rechnen, 20 gemeinsame Lebensjahre mit seinem ältesten Sohn zu verbringen. Heutige Väter haben statistisch gesehen die Chance, ihren ältesten Sohn 50 Jahre lang zu erleben. Die Lebenssituation deutscher Familien hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert

Nach Ansicht des Berliner Sozialwissenschaftlers Professor Dr. Hans Bertram ist bislang zuwenig über Konsequenzen nachgedacht worden, die aus den Veränderungen folgen müßten. In Zeiten kürzerer Lebenserwartung sei es sinnvoll gewesen, Kinder in erster Linie zu früher Selbständigkeit zu erziehen, sagte Bertram am 19. April in Kirchmöser vor Delegierten des Familienbundes der Deutschen Katholiken. Heute müsse ein dauerhaftes Verhältnis zwischen den Generationen als Erziehungsziel in den Blick genommen werden

Der Professor der Berliner Humboldt-Universität verwies auf eine Langzeitstudie aus den Vereinigten Staaten: Das beste Verhältnis zu den Eltern habe, wer während der Pubertät relativ liberal von ihnen behandelt wurde. Das 12. bis 16. Lebensjahr sei demnach für ein langanhaltendes Eltern-Kind-Verhältnis entscheidender als die frühe Kindheit. Die Bereitschaft, seine Eltern in hohem Alter zu pflegen, werde durch eine konstruktive Beziehung in diesen Lebensjahren grundgelegt

Angesichts der steigenden Zahl von Kinderlosen schlug Hans Bertram vor, über neue Formen von Solidarität für das hohe Alter nachzudenken. Durch lebenslange unentgeltlich praktizierte Solidarität sollten sich Bürger einen eigenen Anspruch erwerben, im Alter Nutznießer solidarischer Leistungen zu werden

Für überlegenswert hält der Sozialwissenschaftler die Rekrutierungspraxis der Schweizer Armee: Bis zu einem Alter von 45 Jahren wird man dort alle zwei Jahre drei Wochen lang herangezogen. Denkbar wäre auch, einen Teil der Lebensjahre, die durch zurückgehende Vollbeschäftigung frei werden, für kostenlose Solidarität zu nutzen. Ein soziales Pflichtjahr für Jugendliche, das von einigen Politikern in die Diskussion gebracht wurde, hält Bertram dagegen ungeeignet, eine solidarische Kultur zu fördern: "Damit hätte man Solidarität in seinem Leben sehr schnell abgehakt.

Die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft werde oft verantwortlich gemacht für den Verlust von Werten wie Solidarität. Man müsse die gesellschaftlichen Veränderungen stärker in ihrem Umfeld betrachten. Trotz zurückgehender Geburtenzahlen investierten Eltern heute beispielsweise nicht weniger in ihre Kinder. Sie investierten mehr in weniger Kinder und gehorchten damit den Anforderungen des aktuellen Wirtschaftssystems in Deutschland, das auf gut ausgebildete Arbeitskräfte baue. Die Kosten für zwei Kinder bis zum 19. Lebensjahr entsprächen denen für drei Kinder bis zum 14. Lebensjahr, rechnete Bertram vor

Zuwenig werde auch berücksichtigt, daß es verschiedene Beweggründe für Solidarität gebe: Liebe und Zuneigung, Pflichtgefühl oder Einsicht in die eigene Hilfsbedürftigkeit. Letzterer sei in der heutigen Zeit der typische Beweggrund für Solidarität. Schule und Hochschule förderten diese Form der Solidarität bisher viel zuwenig, bemängelt der Hochschullehrer. Nach wie vor würden in den Schulen die Einzelkämpfer belohnt. Bertram ist überzeugt, daß die Bereitschaft zur Solidarität auf breiter Ebene vorhanden ist

"Wir müssen nach neuen Formen der Solidarität suchen und nach den Gruppen, die dazu bereit sind.

Dorothee Wanzek

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 17 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 27.04.1997

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